Von Franck Sezelli

Während des Morgenlaufs in das Section Center wurde Grehtvoll zwei Mal vom Watching Bracelet ermahnt, den Puls nicht zu hoch zu jagen. Von überallher kamen die Produktiven zum Frühstück, zwischen ihnen mit wachsamem Blick die Ordnenden in weiß-roten Uniformen.

Später war Grehtvoll mit der Werbeaktion »Ourland Food – for all people good« beschäftigt. Er war dem System sehr dankbar, dass er zu den Produktiven gehören durfte. Es ging ihm gut, er bewohnte ein schönes Zimmer, wurde hervorragend versorgt. Abends stand ihm eine umfangreiche Moviethek zur Verfügung, aus der er völlig frei wählen konnte.

Nicht alle waren so glücklich, zu den nützlichen Produktiven zu gehören. Er hatte kürzlich einen solchen Menschen kennengelernt. Unweit seines Wohnblocks lag ein Park mit geschwungenen Kieswegen zwischen kunstvollen Skulpturen. Ab und zu verströmten an den Wegrändern angebrachte Düsen aromatische Düfte.

Hier war er Dauter begegnet. Er stellte sich als ein sehr gebildeter Gesprächspartner heraus, erzählte allerdings oft seltsame Dinge und gebrauchte Wörter, die Grehtvoll nicht verstand. Deshalb wunderte sich Grehtvoll, als er erfuhr, dass Dauter kein Produktiver, sondern ein Freeloader war. Es war nicht gern gesehen, wenn sich Produktive mit Freeloadern einließen, aber der Mann war ihm sympathisch.

 

Als Grehtvoll wieder einmal Dauter im Skulpturenpark auf einer Bank traf, berichtete er ihm von einem recht alten Film, den er am Vorabend gesehen hatte.

»Dort liefen äußerst seltsame Wesen in großen Gruppen durch eine Landschaft, die völlig anders als unsere war. Es gab große graue Gestalten, aber auch gestreifte und gelbe, große und kleine Monster. Es gab böse, die führten Krieg gegen andere, töteten sie und aßen sie sogar auf. Richtig gruselig! Es ging wohl um einen fremden Planeten. Afrika, so hieß der, und dort um ein Land, das, glaube ich, Serengeti hieß.«

»Mein lieber Grehtvoll«, lächelte Dauter, »ich kann mir denken, wovon du redest. Aber Afrika ist kein fremder Planet, sondern Teil unseres eigenen. Das Movie zeigt, wie es vor gar nicht so langer Zeit dort aussah. Diese Wesen waren Tiere, die dort lebten. Auch hier in Ourland gab es früher Tiere, und es gab Bäume, lebende große grüne Skulpturen sozusagen.«

»Was du wieder für Zeug erzählst! Deine Fantasie ist wirklich grenzenlos. Da muss ich zu Hause gleich mal nachschlagen.«

»Mach das!«, entgegnete etwas vergnatzt der Freeloader, »du wirst dich wundern.«

Zu Hause suchte Grehtvoll in Bingoo, der umfassendsten Suchmaschine, die es gibt, nach »Afrika«. Eine Fülle von Einträgen enthielten dieses Wort, unter anderem eine Beschreibung des von ihm gesehenen Films. Weitere Hinweise bezogen sich auf andere Movies, die in Afrika spielten, oder sie verwiesen auf Readerbooks.

In der Gigamedia wurde zum Stichwort erklärt, dass der Begriff in älteren Movies und Readertexten vorkäme und dort meistens einen fantastischen Erdteil bezeichnete. Illustriert wurde der Artikel durch ein Bild von einem der Monster, das Elefant genannt wurde. Er schlug unter »Elefant« nach und wurde darüber belehrt, dass es sich um ein in Vorzeiten sehr beliebtes Fabelwesen handelt. Na, also!, trumpfte Grehtvoll innerlich auf.

Nach der Arbeit am nächsten Tag eilte er in den Park, fand Dauter auch auf der gewohnten Bank sitzend, und rief ihm schon von weitem triumphierend zu: »Ich hatte recht, Afrika ist eine Fantasie, ich habe nachgeforscht …«

»Das war ja klar, dass das herauskommt, es ist alles manipuliert«, brummte Dauter, »ich habe dir deswegen mal etwas mitgebracht.« Er schaute sich um, und als er niemanden in der Nähe sah, gab er seinem naiven Freund einen kleinen braunen, leicht flexiblen Quader. »Sieh dir das mal an!«

Grehtvoll las die Aufschrift: Die Erde. Neugierig wischte er über die Oberfläche, tippte mehrfach auf die Schrift, aber da tat sich überhaupt nichts.

Dauter nahm ihm das Ding wieder aus der Hand, hob den Deckel auf einer Seite an und blätterte seinem Freund viele verschiedene dünne Schichten vor, aus denen der Quader bestand. Grehtvoll sah bunte Bilder und auch Schrift, fast wie in einem Readerbook.

»Was ist das? Was soll ich damit?«

»Das ist ein Buch, ein sehr altes. Nimm es mit, zeige es aber niemandem! Sieh es dir heute Abend ganz genau an und bringe es mir morgen wieder! Einverstanden? Und – wie gesagt, niemandem davon erzählen oder gar zeigen!«

»Gut, mache ich. Aber was hat das mit Afrika zu tun?«

»Pass auf, ich zeige dir’s.« Dauter blätterte in dem Buch und fand die passende Seite. »Das ist ein Atlas der Erde im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, also uralt. Atlas bedeutet, dass alle Länder wie von oben gesehen eingezeichnet sind. Diese Karte zeigt Afrika und alle damaligen Länder auf diesem Erdteil.«

Grehtvoll sah einen bunten Flickenteppich, begriff aber, wie das gemeint war. Schließlich kannte er die Pläne der Sections sowie natürlich die Map of Ourland.

»Prima! Das muss ich mir zu Hause genauer ansehen. Vielen Dank, Dauter! Bis morgen!«

 

»Das war wirklich sehr interessant!« Laut dankte Grehtvoll dem Freeloader für den unterhaltsamen Abend, den er mit dem Buch bis weit in die Nacht hinein verbracht hatte. »Von manchen Ländern hatte ich schon gehört oder gelesen, von vielen aber noch nie. Was mich wundert, dass ich Ourland nicht gefunden habe. Das einzige, was daran erinnerte, war, dass bei einigen Ländern Deutsch als Sprache angegeben war. Das ist doch das altertümliche Idiom, aus dem unsere moderne Auerlengwitsch hervorgegangen ist?«

»Ja, damals gab es Ourland in dieser Form noch nicht. Das ist erst viel später entstanden.«

»Woher soll ich eigentlich wissen, dass das nicht alles eine ausführlich illustrierte Fantasie ist?«

»Nun, wenn du das Buch genau untersuchst, wirst du erkennen, dass es wirklich alt ist – aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit.«

»Was ist das für ein Material?«

»Es nennt sich Papier. So etwas gibt es nicht mehr. Zu seiner Herstellung benötigte man Bäume, von denen ich dir schon erzählt habe. Deswegen ist das etwas sehr Wertvolles.«

»Na ja, man kann das sicher künstlich erzeugen.«

»Stimmt! Aber wozu soll das gut sein? Und – es gibt noch viel mehr solcher papiernen Zeugen der Vergangenheit.«

»Das musst du mir beweisen! Du kannst mir ja sonst einen Bären aufbinden. – Was ist das eigentlich? Ein Bär? Ach egal, hast du noch mehr solcher geheimen Bücher?«

»Psst!«, machte Dauter ärgerlich, »sprich leise!«

»Hab‘ dich nicht so! Ich erzähle es ja keinem, was du so Wertvolles hast.«

»Darum geht es nicht, Grehtvoll. Es ist verboten, so etwas zu besitzen! Ich weiß nicht, was passiert, wenn man uns damit erwischt. Das System versteht da keinen Spaß. Trotzdem würde ich dir gern mehr zeigen. Kann ich mich auf dich verlassen? Kann ich dir vertrauen? Bist du vorsichtig genug?«

»Ich habe das schon verstanden, auch wenn ich glaube, dass du da einer Verschwörungstheorie anhängst. Was soll das System schon dagegen haben, wenn ich so ein altes Buch kenne?«

»Das System ermöglicht uns nur den Zugang zu den Messages, Movies und Books, die ihm genehm sind. Andere sind sozusagen in der Versenkung verschwunden und vergessen.  Es begann mit der umfassenden Digitalisierung im 21. Jahrhundert. Ein mächtiges amerikanisches Unternehmen, Vorläufer von Bingoo, hatte das Ziel, den gesamten Wissensschatz der Menschheit zu digitalisieren, zu speichern und zu verwalten. Man begann mit den großen Bibliotheken der Welt, zuerst mit den Büchern in englischer Sprache. Quellen anderer Sprachen gerieten ins Hintertreffen. Für die Mächtigen der damaligen Epoche wurde diese Art der Wissensverwaltung zu einem unschätzbar wertvollen Werkzeug der Macht. Auch vormals unabhängige Distributoren von Movies und lexikalischem Wissen gerieten in ihre Hände. Die absolute Kontrolle über die Verbreitung von Wissen, Bildung und Kultur war damit gesichert.

Da die Wissensschätze, die zuvor in den Bibliotheken der Welt gesammelt waren, angeblich alle digitalisiert waren, wurden die Kosten zu deren Unterhalt nicht mehr aufgebracht. Sie verfielen und wurden durch kommende Generationen als unnütz sogar vernichtet.«

»Aber das klingt ja schrecklich! Ich hatte immer den Eindruck, dass das System unsere Bildung in den Mittelpunkt unseres Wohllebens stellt, neben der guten sonstigen Versorgung der Bevölkerung. Ich habe mich in Ourland immer wohl gefühlt und war dem System stets dankbar. Ich kann dir das einfach nicht glauben …«

»Du lebst in einer Illusion! Aber du bist ein kluger Mann und ich will dir vertrauen. Komm mit, ich zeige dir was!«

Sie liefen aus dem Park hinaus, an vielen grauen Wohnblocks vorbei, zum Schluss durch einen finsteren Durchgang und eine halb zerfallene Treppe hinab. Am Ende eines langen Ganges benutzte Dauter an einer Stahltür ein Klopfzeichen.

Nach einer Weile öffnete ein alter graubärtiger Mann die Tür, sie traten ein und er schloss wieder ab.

»Sei gegrüßt, mein lieber Zweifler. Wen hast du denn da mitgebracht?«

»Einen Freund, der die Wahrheit kennenlernen will«, antwortete Dauter.

»So sei auch du gegrüßt!«, wandte sich der alte Mann an Grehtvoll und schlurfte den beiden voraus. Sie kamen in einen riesigen Raum, der vollgestellt mit Regalen war, die vom Boden bis zur hohen Decke reichten. In den Regalen standen dicht an dicht Unmassen von Büchern.

Grehtvoll staunte. »Darf ich mich umsehen?«

»Bitte!«, äußerte der Alte und machte eine Handbewegung, den ganzen Raum umfassend.

Grehtvoll zog vorsichtig ein Buch heraus, blätterte darin, las einige Zeilen, nahm in einer anderen Regalreihe wieder eines, bewunderte manches Bild und las sich sogar für Minuten fest.

»Man kann hier unendlich viel lernen, glaube mir, Grehtvoll. Das ist eine alte Bibliothek, die wir bewahren und pflegen wollen.«

Der alte Mann kam zu ihnen und sprach: »Ich werde das hier nicht mehr lange führen können. Meine Hoffnung ruht auf euch, auf der jungen Generation. Gebt das hier versammelte Wissen weiter, an die Richtigen, die Neugierigen und Wissensdurstigen, an die Zweifler und Fragenden. Dann ist die Welt vielleicht noch nicht verloren …«