Von Sandra Hoschek

Einsamkeit, Verzweiflung, Traurigkeit, Scham, Verachtung und Abscheu. Diese Emotionen konnte Sarah in den Gesichtern der Gäste ablesen. Sie saß an der Bar und deutete dem Barkeeper, ihr nachzuschenken. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn darum gebeten hatte. Sarah sah sich um und beobachtete die anderen Anwesenden. Schon als kleines Mädchen war es ihr leichtgefallen, die Erwachsenen zu durchschauen. Bis zu diesem Abend hatte sie dieses Talent nahezu perfektioniert. 

Warum das junge Mädchen mit den langen gelockten Haaren, dem aufgesetzten Lächeln und dem Minikleid mit dem großen Ausschnitt in die Bar gekommen war, war nicht schwer zu erraten. Der Mann im Anzug neben Sarah wirkte hingegen verloren. Er starrte bereits seit mehreren Minuten auf seinen Drink und schien ansonsten nichts in seiner Umgebung wahrzunehmen. Sarah vermutete, dass er trockener Alkoholiker war und mit seinem Gewissen rang, wieder mit dem Trinken anzufangen. Vielleicht wurde er verlassen, hatte jemanden zu betrauern oder einfach nur einen schlimmen Tag hinter sich. 

Der Barmann schob ihr noch einen Whisky hinüber und Sarah ließ ihren Blick unauffällig durch den Raum wandern. Das Pub war bereits ziemlich gut gefüllt, als eine Gruppe Männer geradewegs auf die Bar zusteuerte. Ihre begierigen Blicke verrieten, dass die Männer nur zum Trinken hergekommen waren.  Da sie allerdings gut gelaunt wirkten, vermutete Sarah einen freudigen Anlass hinter ihrem Besuch.

Schließlich erregte ein großer dunkelhäutiger Mann, der alleine in einer Ecke saß, die Lippen angestrengt zusammenpresste und den Blick ständig zu den Ein- und Ausgängen der Bar wandern ließ, Sarahs Aufmerksamkeit. Dieser Mann war aus einem bestimmten Grund hier. Seinen Drink hatte er noch nicht angerührt. Sarah wurde etwas nervös, während sie unauffällig den Mann mit der düsteren Ausstrahlung und dem vollen Whiskey-Glas beobachtete. Auf einmal veränderte sich der Blick des Mannes. Seine Augen wanderten nun nicht mehr durch den Raum, sondern ruhten auf einer Person. Eine junge und ausgezehrt wirkende Frau durchquerte den Raum und ließ sich auf dem leeren Platz ihm gegenüber nieder. Leise begannen sie eine Unterhaltung. Für die übrigen Gäste wirkten sie wie zwei Freunde oder sogar wie ein Liebespaar, doch Sarah vermutete mehr hinter diesem Treffen. Ihr Verdacht bestätigte sich, als sie aus den Augenwinkeln sah, wie sich ihre Handflächen kurz berührten und beide jeweils wenig später ein kleines Etwas in ihre Hand- oder Hosentasche gleiten ließen. Die Frau sah sich verstohlen um, als sie sich erhob und zum Ausgang ging, doch niemand schien den kleinen Austausch bemerkt zu haben. Höchstwahrscheinlich ging es um Drogen, aber da Sarah das nichts anging, kümmerte sie sich stattdessen darum, ihr bereits leeres Glas füllen zu lassen. 

Und dann, ohne jegliche Vorwarnung, spürte sie es. Sie bemerkte seine Präsenz, bevor sie den Mann sehen konnte. Sie fühlte seinen unbändigen Zorn und schieren Hass und wusste, dass er bereits den Raum Stück für Stück absuchte. Das Kribbeln in ihrem Nacken verriet ihr, dass der Mann sie bereits mit seinen Blicken durchbohrte. Sie ignorierte die Angst, die langsam in ihr aufstieg, und bestellte noch einen Drink. Sarah musste ihre Bestellung mehrmals wiederholen, weil sie lallte. Nachdem sie den Drink schnell hinuntergekippt hatte, stöberte sie in ihrer Tasche nach den Autoschlüsseln. Die Schlüssel glitten durch ihre zitternden Hände und als sie sie aufheben wollte, wäre sie beinahe vom Barhocker gefallen. Der Mann mit dem traurigen Blick hob den Schlüssel für sie auf und fragte, ob sie in ihrem Zustand noch fahren konnte. Sarah winkte mit einem Lächeln ab, um ihn schnell loszuwerden, und stolperte aus der Bar. 

Seine schweren Schritte durchdrangen die Stille der menschenleeren Straße und wurden immer lauter, je näher er Sarah kam. Sie konzentrierte all ihre Sinne auf die Gestalt hinter ihr, während sie die Straße entlang torkelte. Bei ihrem Wagen angekommen, hatte sie kaum die Sicherungen entriegelt, als auch schon der Mann von hinten an sie herantrat. Er war nicht so groß, wie sie erwartet hatte. Er trug einen dunklen Mantel, hatte dunkles Haar und einen Ausdruck in den Augen, der das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Einige Sekunden starrten sich die beiden nur an, abschätzend. Sarah wankte etwas und hielt sich am Dach ihres Autos fest. Dies war die Bestätigung, auf die der Mann gewartet hatte: Eine betrunkene Frau, die sich hinters Steuer setzen wollte, obwohl sie dazu nicht mehr in der Lage war.  

„Du wirst niemanden töten!“, flüsterte der Mann mit tiefer Stimme, als er sein Messer zückte. 

Sarah erwiderte seinen Blick mit ebenso gleicher Verachtung und trat einen Schritt auf ihn zu. „Höchstens einen!“, antwortete sie entschlossen und wirkte plötzlich überhaupt nicht mehr betrunken. 

 

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Als Ray das Bewusstsein wiedererlangte, wusste er nicht, wo er war. Es war dunkel und er konnte sich nicht bewegen. Er konnte sich nicht bewegen, weil ihn gefühlt jeder Muskel seines Körpers schmerzte, und er außerdem an einen Stuhl gefesselt war. Sein linkes Bein war merkwürdig abgewinkelt und das röchelnde Geräusch beim Ein- und Ausatmen ließ ihn vermuten, dass mindestens eine Rippe gebrochen war. Außerdem konnte er Blut schmecken, sein Gesicht war also auch nicht verschont geblieben. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er erkannte, dass er sich in einem leeren Raum ohne Fenster befand. Es könnte ein Keller sein, doch mit Sicherheit wusste er das natürlich nicht. Die junge Frau, die er zuvor von der Bar bis zu ihrem Wagen verfolgt hatte, bemerkte er erst, als sie den Lichtschalter betätigte. Ray kniff erschrocken die Augen zusammen, was er aber sofort wieder bereute, als ein erneuter Schmerz sein Gesicht durchzuckte. 

„Warum?“, stöhnte Ray und sah die Frau fragend an. Sie war hübsch, das war ihm bereits zuvor aufgefallen. Sie trug ein schwarzes Seidentop und eine Röhrenjeans, ihr zierliches Gesicht war von schulterlangen, blonden Löckchen umrahmt. Die Art und Weise, wie sie vor ihm stand und ihn angewidert ansah, passte nicht zu ihr. Die Abscheu und der Hass in ihren Augen gehörten eindeutig nicht zu ihren typischen Wesenszügen und für einen kurzen Moment fühlte er sich schuldig. Schuldig, weil er dafür verantwortlich war. 

„Warum? Sie fragen ernsthaft, warum?“, höhnte die Frau und schlug ihm wutentbrannt mit der flachen Hand mehrmals ins Gesicht. Sie schlug fest zu. Es würde Ray nicht überraschen, wenn sie Erfahrungen in Kampfsport hätte. 

„Ich helfe ihrem Gedächtnis auf die Sprünge! So wie heute haben Sie ein betrunkenes Mädchen von einer Bar bis zu ihrem Wagen verfolgt. Im Gegensatz zu ihr war ich aber nicht betrunken. Der Barkeeper hat mir nur Wasser eingeschenkt.“ Sarah sah triumphierend zu, wie Ray ihre List allmählich durchschaute. Sarah fuhr fort: „Die Haare des Mädchens sahen aus wie meine, nur trug sie sie glatt. Ein rotes Kleid und hochhackige Schuhe. Na, kommt die Erinnerung zurück?“

Ray musste zuerst das Blut ausspucken, das sich in seinem Mund angesammelt hatte. 

„Ich erinnere mich. Noch so eine Mörderin, die sich sturzbetrunken hinter das Steuer ihres Wagens setzen wollte. Sie hat es genauso verdient wie die anderen vor ihr!“ 

„Wie viele Frauen gab es?“, fragte Sarah steif. Sie hatte Angst vor dem, was sie gleich hören würde. 

„Fünf.“ Er gab es zu. Einfach so. Ray hatte fünf Menschen ihr Leben genommen und es schien ihn nicht zu kümmern. 

„Warum?“, wollte Sarah wissen. 

„Weil sie alle Mörderinnen sind, genauso wie die Schlampe, die meinen Sohn angefahren und sterbend auf der Straße zurückgelassen hat. Er ist tot, weil sie nicht die Finger vom Lenkrad lassen konnte. Er war ein unschuldiger Junge und ist alleine gestorben.“ Stille Tränen liefen über Rays Gesicht. 

„Wie meine Schwester! Sie hat nichts getan!“, schrie Sarah, während Ray sie nur ungläubig anstarrte. Ihm stand eine Frage ins Gesicht geschrieben. Sarah brauchte einige Sekunden, dann sprach sie unter Tränen weiter. „Julie war mit Freunden unterwegs und hatte nicht geplant etwas zu trinken. Sie hat mich gebeten sie abzuholen und wir wollten uns bei ihrem Wagen treffen. Als ich dort ankam, lag sie reglos auf dem Boden. Sie haben sie umgebracht!“ 

Ray stand unter Schock und spürte die Ohrfeigen kaum, die Sarah ihm in ihrer Rage verpasste. Er soll ein unschuldiges Mädchen getötet haben? Er erinnerte sich genau an Julie. An die Angst in ihren Augen, als sie bemerkt hatte, dass sie ihm nicht entkommen konnte, als er ihre Kehle zudrückte. Sie war ungefähr im selben Alter wie sein Sohn gewesen. 

Ray hatte das Gefühl zu ertrinken. Er weinte, schluchzte, schrie sogar, doch was er getan hatte, das konnte er nicht mehr ändern. Er würde mit dieser Schuld leben müssen und er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass er an einem ihm unbekannten Ort gefesselt war und keine Chance hatte, zu entkommen. Diesmal war er es, der einem anderen Menschen ausgeliefert war. Sein Blick fiel auf Sarah, die geistesabwesend dastand und stumm ihre Schwester betrauerte. 

„Was werden Sie jetzt mit mir machen?“, fragte Ray sie sichtlich verängstigt, die Spuren getrockneter Tränen immer noch sichtbar auf seinen Wangen. Sarah sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. Weiter hatte sie nicht vorausgeplant. Sie wollte den Mörder ihrer Schwester fassen und ihn zu einem Geständnis zwingen. Sie wollte die Angst in seinen Augen sehen, wenn sein Leben in ihren Händen liegen würde. Doch was sollte sie nun mit ihm machen? Sollte sie ihn umbringen? Ihm das gleiche antun, was er ihrer Schwester angetan hatte? Oder ihn der Polizei übergeben und hinter Gittern verrotten lassen? 

Egal was sie tun würde, ihre Schwester würde sie dadurch nicht zurückbekommen. Sie schloss die Augen und fasste einen Entschluss. Ray protestierte, als Sarah sich zum Gehen wandte, doch es änderte nichts an ihrer Entscheidung. Sie verließ den Raum und blickte nicht mehr zurück.