Von Marie Masse

„Das Erste Mal.“ Dieser Gedanke nistet sich heute beim Aufwachen in meinem Kopf ein. Wie ein groß geschriebener Titel im Kalender wird er mich wahrscheinlich den ganzen Tag begleiten, zuerst als Vorfreude, dann als Genuss und schließlich als bewegende Erinnerung.

Ich merke, wie sich meine Augen leicht feucht anfühlen, gleichzeitig kann ich nicht umhin zu schmunzeln. Sich auf „Das Erste Mal“ mit über fünfzig zu freuen klingt ziemlich absonderlich, wenn man nicht weiß, was ich damit meine. Aber ja, philosophiere ich noch weiter im Bett, für vieles im Leben gibt es ein erstes Mal und nicht nur … Und wenn es auch nur ein „Erstes Mal Danach´´ ist.

 

„Statt Blödsinn zu denken, solltest du aufstehen!“, gebe ich mir selbst den Befehl und zwinge meine Füße aus der kuscheligen Decke. Ich muss noch einkaufen gehen, bevor ich zu unserer Verabredung fahre, eine Strecke von etwa zwei Stunden zur Grenze. Laut Wetterbericht von gestern Abend im Fernsehen soll die Sonne den ganzen Tag auch bei ihr scheinen, ideal für ein Treffen im Park nicht weit ihrer Residenz: Wir werden nicht nur spazieren gehen, sondern auch draußen sitzen können. Und wenn ich sie mit einem Picknick überraschen würde? Schließlich hat sie lange genug nicht mehr bei uns einkaufen dürfen. Erst seit letzter Woche kann sie ohne großen Aufwand rüber: über die Fußgängerbrücke zwischen ihrer Wahlheimat und Deutschland. Ich weiß, dass sie sich auf ein paar Spezialitäten aus der Region freuen würde.

Ich bin zu aufgeregt, um in aller Ruhe zu frühstücken. Dabei eine kurze Einkaufsliste aufzuschreiben hilft mir, mich auf Konkretes zu konzentrieren und die Zeit zu verkürzen. Denn diese letzten Momente vor dem großen Wiedersehen sind die längsten. Schon seit zwei Wochen kommt mir alles verlangsamt vor. Im Laufe der vierzehn letzten Monate hatte ich mich – wahrscheinlich wie viele – in eine einsame Monotonie eingelebt, die irgendwann das Normale geworden war. Ja, zuerst gab es noch die Hoffnung auf ein schnelles Verschwinden des Spuks, und irgendwann versteht man, dass er nicht so einfach zu verjagen ist wie gedacht. Man freut sich nur noch über jeden Sieg: dass man ihm wieder einmal entwichen ist, dass er uns nicht mit voller Wucht angespuckt hat. Die kleinen Unannehmlichkeiten werden zu Nebensachen.

Beim letzten Biss in mein Brötchen muss ich lächeln, obwohl es gar nicht lustig ist: Ja, genau, der Spuk spuckt uns an, das Bild passt leider zu gut.  

Aber seit ich weiß, dass wir uns nach zehn Monaten bald sehen werden, bin ich wie eine kleine Blume, die lange in der Erde vor sich hinschlummert, bevor sie sich plötzlich einen Weg aus ihrem Versteck freischaufelt. Ich muss endlich raus. Was ein vager Wunsch war, ist zu einem konkreten geworden, und dieses Freischaufeln scheint ewig zu dauern.

Eine gewisse Bange ist aber auch dabei. Obwohl sie sich am Telefon wie immer angehört und nicht über besondere Beschwerden beklagt hat, sind zehn Monate eine lange Zeit, wenn man über achtzig ist. Das gezwungene Dahinleben könnte noch mehr Spuren hinterlassen haben als bei Jüngeren.

„Fang doch nicht mit düsteren Gedanken an, genieß die Vorfreude“, sage ich laut, um meiner Parole mehr Kraft zu verleihen, bevor ich mich in die Routine des frühen Morgens stürze.

*

Mit meinem neu erworbenen gelben „Passierschein´´ fahre ich problemlos über die Grenze und klingle pünktlich zur vereinbarten Zeit an der Tür der Residenz. Ich kann mir denken, dass sie startbereit nahe der Sprechanlage sitzt, aus Ungeduld und aus Angst, den Rufton zu überhören. In der Tat dauert es nicht lang, bis das Summen des Türöffners erklingt. Mit Schwung nehme ich die Treppe für die letzte Hürde zu ihr hinauf. Oben angekommen sehe ich sie ein paar Meter weiter vor ihrer Wohnungstür auf mich warten. Ich kann nur die Hälfte ihres Gesichts sehen, ihre Augen verraten mir aber das breite Lächeln, das die Maske verbirgt. Ich lasse meine Tasche fallen, laufe zu ihr und nehme sie in die Arme. Meine Hände legen sich flach auf ihren Rücken und ich drücke sie kurz an mich. Übertreiben dürfen wir noch nicht, aber wie gut sie tut, die erste Umarmung mit meiner Mutter nach so langer Zeit!

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