Von Ellen Loeper-Cremer

Ich erinnere mich noch genau an alles: an den Geruch und die Geräusche, an die Atmosphäre und was gesagt wurde. Dabei ist es über ein halbes Jahrhundert her …

 

Ich hatte mein Abitur mehr schlecht als recht absolviert, trotzdem hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, Medizin zu studieren. Um die Wartezeit sinnvoll zu überbrücken, schob ich die Ausbildung zum Rettungssanitäter dazwischen. Macht Sinn, dachte ich mir, und ist schon einmal ein Probelauf für spätere Herausforderungen.

 

Meistens war ich mit Chris unterwegs. Wir verstanden uns gut und waren ein eingespieltes Team. Chris war ein lustiger Typ, er kaute ständig Pfefferminzkaugummis und hatte immer einen blöden Spruch auf Lager, was gut war, denn wir haben schlimme Dinge gesehen. Doch dieser eine Job im Altersheim – damals hieß das noch so – ist hängengeblieben. Ich weiß auch nicht genau, warum.

 

Wir hatten den Auftrag, eine Dame vom Heim ins Krankenhaus zu fahren.

Als wir ankamen, war gerade Essenszeit. Die Leute saßen in einem düsteren Speisesaal und  versuchten mehr oder weniger selbstständig zu essen. Kein erfreulicher Anblick. Dazu dieser Altersheimgeruch: eine süßliche Mischung aus Essensresten, diversen menschlichen Ausdünstungen und Kölnisch Wasser. Wir gingen zur Anmeldung und fragten bei der Stationsleitung nach der Patientin.

„Ja, wir bringen sie gleich, da sind schon mal die Papiere.“

Wir sollten im Eingangsbereich warten, drei Flure verloren sich von dort aus halbkreisförmig im Dunklen. Vor jedem Eingang zu den Fluren standen jeweils ein kleiner Tisch und ein Sessel. Die Sessel verströmten einen muffigen Geruch, die stockfleckig-staubig Bezüge ließen den Samt nur noch erahnen, die hohen Rückenlehnen waren am Kopfteil mit bunten Häckeldeckchen abgedeckt und die Sitzflächen sahen aus, als läge dort das verfilzte Fell einer toten Katze.

Ein alter Mann saß auf einem der Sessel, eine gelb-orangene Decke war um seine schmalen Schultern gewickelt. Er wirkte wie das traurige Überbleibsel einer Katastrophe, die ihren Schaden angerichtet hatte und weitergezogen war. Unvermittelt fing er an zu husten. Tränen tropften aus seinen Augenwinkeln. Er zerrte mit seinen knotigen Fingern ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, tupfte die Augen ab und schnäuzte sich.

„Warum sitzt er nicht bei den anderen im Speisesaal?“, wollte ich von einer vorbeieilenden Pflegerin wissen. Sie blickte auf ein Dokument in ihrer Hand, schaute nur kurz zu mir herüber und lief weiter.

Aus dem Speisesaal drang leise das Geklapper von Geschirr und Besteck zu uns herüber, ab und zu wurde ein Stuhl über den Linoleumboden geschoben, sonst war es still.

Chris schob sich den hundertsten Kaugummistreifen zwischen die Zähne, seine Kiefer mahlten zielstrebig das Pfefferminzaroma aus der Gummimasse heraus. Ich schielte immer wieder zu dem alten Mann auf dem abgewetzten Samtsessel herüber.

Mit hängenden Armen standen wir da und warteten. Keiner sagte etwas.

 

Schließlich schoben sie die Frau herein.

Sie war dement, das sah ich sofort. Ihre Umgebung nahm sie kaum noch wahr. Fast regungslos saß sie auf dem Stuhl, nur ihr Kopf wackelte leicht hin und her. Die Kopfhaut schimmerte durch ihr feines, gelb-weißes Haar. Ihre Nasenflügel waren verkrustet, ihren Unterkiefer schob sie immer wieder vor und zurück. Gleichzeitig fuhr ihre Zunge durch den zahnlosen Mund und formte mal in der linken, mal in der rechten Wange eine kleine Wölbung. Über ihren Augen lag ein milchiger Schleier und das kleine, runzlige Gesicht war mit braun-schwarzen Altersflecken bedeckt. Ihre Hände lagen wie zwei kleine, vertrocknete Wurzelstöcke verloren in ihrem Schoß.

 

Eine Pflegerin kam dazu und fiel aus allen Wolken. „Was, Frau Fröhlich, Sie müssen ins Krankenhaus? Davon wusste ich gar nichts!“

Sie drehte sich zu uns: „Mensch, sie mag Schokolade so gern! Geben sie ihr ab und an Schokolade. Sagen sie im Krankenhaus Bescheid, dass sie ihr dort Schokolade geben! Warten Sie bitte einen Moment.“

 

Sie ging kurz weg und kam mit einem Rippchen Schokolade zwischen den Fingern zurück.

„Hier ist Schokolade, Frau Fröhlich!“

Mit geschlossenen Augen schleckte die alte Frau genussvoll die Schokolade aus den Fingern ihrer Betreuerin. Ein sanftes Lächeln schlich sich in deren Gesicht, vorsichtig strich sie ihrem Schützling mit der anderen Hand über den fast kahlen Kopf. Die alte Dame streckte die Zunge immer wieder nach der Schokolade heraus, so weit, wie sie nur konnte, leckte die Schokolade genüsslich auch zwischen den Fingern der Pflegerin ab. Diese achtete darauf, dass Frau Fröhlich sie nur lutschte und nicht auf einmal verschluckte.

Ich spürte die Vertrautheit zwischen den beiden, spürte die Freude der alten Frau über diesen seltenen Genuss und die Freude der Betreuerin, ihr diesen geben zu können. Die dünnen, kaum noch sichtbaren Lippen der alten Frau legten sich über das Zahnfleisch und verliehen ihrem Gesicht einen zufriedenen, seligen Ausdruck. Lag es an dem unverhofften Schokoladengenuss oder daran, dass sie keine Zähne mehr im Mund hatte?

Chris und ich standen, wie meist, unter Zeitdruck. Also gab die Pflegerin Frau Fröhlich das letzte, fast abgeleckte Stückchen dann doch komplett in den Mund.

„Langsam lutschen, Frau Fröhlich, nicht alles auf einmal hinunterschlucken!“ Die Pflegerin streichelte ihr noch einmal über den Kopf und sagte flehend zu uns: „Sagen Sie im Krankenhaus den Schwestern, dass sie Schokolade so gern mag! Sie sollen ihr ab und zu Schokolade geben!“

Wir hoben Frau Fröhlich auf unsere Trage und machten uns auf den Weg. Im Krankenhaus „lieferten“ wir sie in der Aufnahme ab. Sie wurde sofort weggebracht. Wir hatten keine Chance, irgendjemandem irgendetwas über Frau Fröhlich zu sagen, wussten nicht einmal, wo sie in diesem Moloch landen würde.

Außerdem war der nächste Termin überfällig, wir mussten weiter.

Während der Fahrt konzentrierte ich mich auf den Verkehr, Chris starrte auf die Straße. Mir war nicht nach Reden und Chris nicht nach Scherzen zumute.

„Mensch, so will man doch nicht alt werden“, platzte es aus Chris heraus. „Dann halt ich`s lieber wie in dem Song My Generation: I hope I die before I get old!“

„Ich werde dich daran erinnern, wenn`s soweit ist.“

Chris grinste zu  mir herüber und angelte sich einen Kaugummistreifen aus seiner Hosentasche.

 

 

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Heute gehe ich wieder in die Seniorenresidenz, meinen alten Freund besuchen. Ich sehe ihn regelmäßig. Er erkennt mich zwar nicht mehr, aber wenn ich mit ihm die alten Zeiten wieder aufleben lasse, blüht er richtig auf und seine Augen leuchten. Ich halte ihm dann immer meine flache Hand hin, auf der ein Kaugummistreifen mit Pfefferminzgeschmack liegt. Sofort verzieht sich sein Mund zu einem breiten Grinsen. Seine Zähne hat er noch fast alle. Gott sei Dank.

 

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