Von Katharina Rieder

Ich wohne in einem Loft, einem Loft ohne Türen. Nicht einmal die Toilette hat eine. Auch nicht der Eingang. Da ist vielmehr ein bodentiefes einbruchsicheres Fenster, das sich durch einen Fingerprint öffnen lässt. Ich kann Türen nicht leiden. Sie erinnern mich daran, wie einsam ich einst war. Sobald ich vor einer geschlossenen Türe stehe, ist es, als wäre ich wieder der naive, achtjährige kleine Spatz. Dann rieche ich sie wieder, höre ich sie wieder und es saugt mich zurück in die Vergangenheit.

***

„Reiz mich jetzt nicht, kleiner Spatz!“

„Okay, Mama!“

Ich kauere in einer Ecke unseres Flurs am Boden und bitte sehnlichst, dass sie bald in ihrem Schlafzimmer verschwinden möge. Meine Mama braucht ihre eigenen vier Wände wie die Luft zum Atmen. Wenn sie so drauf ist wie jetzt, wäre ich wirklich gerne ein kleiner Spatz. Ich würde zum Flug ansetzen, durch das Fenster fliegen und die Welt erforschen. 

Mama tigert durch die Wohnung, wie eine graue Aufziehmaus, kaut auf ihren Fingernägeln herum, kratzt sich an Armen und Beinen. Sie zittert, Schweiß perlt von ihrer Stirn. Sie läuft in das Badezimmer und übergibt sich. Als sie wieder herauskommt, wischt sie sich mit dem Handrücken über den Mund. Ein säuerlicher Geruch ruht in der Luft. Sie nimmt ihr Handy. Sie telefoniert.

„Wo bleibst du verdammt noch mal? Ich flippe gleich aus!“

Aufgebracht klappt sie das Handy wieder zu und deponiert es auf der Kommode. 

„Mama, vielleicht solltest du wieder in dein Zimmer gehen und die Türe abschließen. Du fühlst dich bestimmt bald besser!“, versuche ich sie zu trösten.

Ich strecke vorsichtig meine Hand nach ihrem Fuß aus. Sie schüttelt mich ab, wie ein aufdringliches Insekt.

„Sei ruhig! Du verstehst nichts, gar nichts!“, ruft sie aufgebracht.

Meine Hände formen sich zu Fäusten. Nur zu gerne würde ich eine weitere Kerbe in das Holz ihrer Zimmertüre schnitzen. 

Mama steht im Flur und starrt auf den Eingang. Sie klopft mit ihren Fingern auf die aus Weichholz gefertigte Kommode, die jetzt in meinem Loft steht und mir diese Situation wieder ins Gedächtnis zurückruft. 

Plötzlich ist ein Schlüssel im Schloss zu hören. Mama richtet sich erwartungsvoll auf. Onkel Kai betritt breitbeinig unsere Wohnung. Ich kann ihn nicht leiden. Allein schon, weil er in Mamas Schlafzimmer darf und ich draußen bleiben muss! In meiner Phantasie bin ich ein Riese, doppelt so groß wie Onkel Kai. Ich stelle mir vor, wie ich mit meiner flachen Hand aushole und sie mit großer Wucht gegen seine Wange krachen lasse, sodass er sich dreht, ähnlich einem Brummkreisel. 

Während Mama es kaum mehr erwarten kann mit ihm in ihrem Zimmer zu verschwinden, lässt Onkel Kai sich Zeit, zieht lässig seine derbe Lederjacke aus, wirft sie in meine Richtung. 

„Fang Junge!“, ruft er aus, lacht. 

„Mach endlich!“, drängelt Mama und sieht Onkel Kai flehentlich an. „Kleiner Spatz, geh ins Wohnzimmer. Mama kommt gleich wieder!“ 

Onkel Kai folgt Mama gemächlich. Er zieht die Türe zu. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Ein Laut, der meinen Puls beschleunigen lässt. Ich bin ausgeschlossen und sie sind eingeschlossen. Die versperrte Türe kommt mir gespenstisch vor, wie ein Monster ragt sie vor mir auf. Sie ist unüberwindbar, geradezu überlegen. Und sie ist mir bestens vertraut: Jede Kerbe, jeder Kratzer, jede kleine Holzmusterung; 

Ich setze mich neben den Türrahmen mit dem Rücken zur Wand, die Beine aufgestellt. In dieser Position kommt sie mir weniger feindselig vor. Ich kenne die Zimmertüre aus allen möglichen Perspektiven: im Liegen, im Stehen, im Sitzen, im Handstand, im Kopfstand. Sobald ich im Schneidersitz vor ihr sitze, wirkt sie am beängstigendsten auf mich. Sie scheint dann kein Ende zu nehmen. Sie verhöhnt mich, indem sie mir aufzeigt, wie unbedeutend ich bin. 

„Schade, dass du nicht sprechen kannst. Ich würde nur allzu gerne wissen, was Mama gerade macht!“, entschlossen klappe ich mein Taschenmesser auf.

Aus der Ritze unter der Türe dringt ein fauliger Geruch, der an Rauch und Schweiß erinnert. Ich verabscheue diesen Gestank. Er ist mir ähnlich vertraut, wie das morgendliche Zähneputzen. 

„Ich hoffe, du bist mir nicht böse, liebe Türe, wenn ich den kleinen Kratzer da tiefer aushöhle.“

Ich streiche mit meinem Zeigefinger über die winzige Einritzung und setze das Messer am oberen Ende an. Tief und tiefer senkt sich die Klinge in das Holz. Es beruhigt mich, das Herzklopfen lässt nach. Gut, dass das Holz so geduldig ist und keine Widerworte gibt. 

Einige tiefe Kerben später kommt Onkel Kai wieder heraus und zieht fix die Türe hinter sich zu. Er guckt mich mit seinen kalten Augen an: „Na du Spanner immer noch da?“ 

Er wuschelt über meine Haare, so als wären wir Freunde, schnappt sich seine Lederjacke und die Schlüssel. Weg ist er. Wenn ich ein Spatz wäre, würde ich in seine große Nase hacken. Immer und immer wieder. 

Am schlimmsten ist, dass ich nie weiß, wann sich die Türe öffnet und Mama wieder herauskommt. Manchmal geht sie nach kurzer Zeit auf. Zuweilen bleibt sie jedoch so lange geschlossen, dass ich zu zittern beginne. Mein Herz rast und meine Muskeln sind angespannt wie ein Regenschirm. 

Soll ich klopfen oder nicht?‘, wäge ich ab. Ich verwerfe es meist angesichts der Erinnerung an das, was passierte, als ich das einmal getan hatte, schnell wieder. 

Häufig zücke ich lieber mein Taschenmesser, ritze eine weitere tiefe Kerbe in das Holz. Nach jeder neuen lässt meine Anspannung etwas nach. 

Da endlich! Mama taucht auf! Sie lächelt mich mit ihren stecknadelgroßen Pupillen an, ihre Hände ruhen. Die Anspannung ist verflogen. Das ist die beste Zeit des Tages für uns.

„Hast du Hunger, kleiner Spatz? Komm! Ich koch uns etwas!“

Wenn Mama davon spricht zu kochen, meint sie damit, dass sie uns einen Joghurt zubereitet, einen mit pürierten Früchten, Honig und Zimt immerhin. Etwas anderes habe ich sie noch nie „kochen“ sehen. Ich folge ihr in die Küche. 

„Schäl du schon einmal die Bananen!“

„Ja, Mama! Ich darf aber pürieren!“

„Na klar, kleiner Spatz!“

Wir stehen am Fenster, löffeln unser selbst gemachtes Fruchtjoghurt und sehen den Menschen, die unten an den Schaufenstern vorbei flanieren, zu. 

„Siehst du das weiße Schaf da unten?“

Ich gucke nach unten, kann allerdings kein Schaf entdecken.

„Sieh mal, wie süß! Es sieht direkt zu uns herauf!“

„Mama, wo denn? Ich kann kein Schaf sehen!“

„Bist du blind? Da!“, ruft sie aufgebracht aus und fuchtelt mit ihrem Zeigefinger nach unten.

Ich konzentriere mich, schaue angestrengt. Nur da ist kein Schaf. Ich spüre ihre Hand auf meinen Arm. Ihre Finger krallen sich fest.

„Aua! Mama, du tust mir weh!“

„Kleiner Spatz, sieh nur! Jetzt schwebt es zu uns herauf. Unglaublich! Siehst du das?“

Ich schaue betreten zu Boden und sage: „Ja, ich sehe das Schaf!“

Doch es ist gelogen. Ich sehe nichts, gar nichts. 

„Wie schön es ist!“, ruft Mama aus und öffnet das Fenster. 

„Lass uns mit dem Schaf tanzen!“

Mama nimmt meine Hand und wirbelt mit mir durchs Wohnzimmer. 

„Kleiner Spatz, Mama ist müde. Ich muss mich etwas hinlegen“, höre ich sie plötzlich sagen. 

Sie wandelt in ihr Schlafzimmer, zieht die Türe hinter sich ins Schloss. Der Schlüssel dreht sich. Sie ist eingeschlossen und ich bin wieder einmal ausgeschlossen. Die Leichtigkeit in meinem Herzen wird durch eine Enge in meinem Hals, die mir die Luft abzuschnüren droht, brutal verdrängt. 

***

An jenem Abend schwebte sie nicht mehr aus ihrem Schlafzimmer heraus. Ich verbrachte die ganze Nacht vor der Türe, traute mich nicht zu klopfen. Irgendwann schlief ich erschöpft und angstgepeinigt am Boden ein. Am Morgen schmerzten alle meine Glieder und ich war zu müde, um in die Schule zu gehen. Ich geduldete mich, harrte weiter neben der Türe aus. 

Am Nachmittag war ich froh, Onkel Kai zu sehen. Er trat mit aller Wucht gegen das von tiefen Kerben übersäte Portal zu Mamas geheimen Zimmer. Ich wäre gerne an seiner Stelle gewesen, hätte gerne diese vermaledeite Türe niedergerissen. Obwohl ich nun Zutritt zu ihrem Reich gehabt hatte, wagte ich mich nicht hinein. Ich blieb neben dem Eingang mit dem Rücken zur Wand sitzen. Auf einmal hörte ich Onkel Kai weinen. Es irritierte mich, diesen Mann mit den kalten Augen und der wuchtigen Lederjacke weinen zu hören. Plötzlich erschien er mir wie eine kleine piepsende Maus, vor der ich keine Angst zu haben brauchte.

Als er wieder aus dem Zimmer trat, bückte er sich zu mir herab, fasste mich an den Schultern, schniefte und sagte: „Junge, sie ist auf eine Reise gegangen. Sie ist wie ein Vögelchen aus dem offenen Fenster geflogen, in eine andere Welt. Eine Welt, in der sie endlich frei ist!“

Ich spürte eine unerträgliche Hitze, die sich in meinem Innersten ausbreitete. Meine Augenwinkel wurden nass und ich holte mit der flachen Hand aus, ließ sie auf seine behaarte Wange niedersausen. Anstatt sich zu drehen, nahm mich Onkel Kai in den Arm. Dann verließ er mit mir die Wohnung. Das Abwarten hatte endlich ein Ende. Nie wieder sagte jemand „Kleiner Spatz“ zu mir. Trotz allem vermisse ich sie und unsere „Joghurt-Zeiten“!

***

Irgendwann dachte ich, dass ich Türen nicht leiden kann. Ich habe wohl ein gespaltenes Verhältnis zu ihnen. Daher wohne ich in einem Loft, einem Loft ganz ohne Türen. Nur manchmal frage ich mich im Stillen, was wohl aus meiner Türe mit den vielen Narben geworden ist.

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