Von Miklos Muhi

Als der Alarm losging, blickte Sergej sofort auf den Bildschirm vor ihm. Auf dem dargestellten Satellitenbild blinkte ein einziger roter Punkt. Als nach einigen Sekunden keine weitere auftauchten, atmete er erleichtert auf. Alle im Raum schauten ihn gespannt an.

»Was machen wir jetzt, Genosse Oberstleutnant?«, fragte einer der Uniformierten.

»Ihr macht gar nichts. Ich melde den Fehlalarm an den Generalstab«, antwortete er, stellte die Sirene ab und schloss die Abdeckung des roten Startknopfs.

 

Das Gespräch mit dem diensthabenden Offizier des Stabes verlief alles anderes als glatt.

»Genosse Oberstleutnant, die Anweisungen sind klar. Beim Angriff, erfolgt sofort der Gegenangriff, und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Das haben Sie versäumt und sie müssen mit Konsequenzen rechnen.«

»Mit Verlaub, Genosse Generalmajor, die Anweisungen sprechen von einem Angriff. Die werden wohl nicht mit einer einzigen Rakete angreifen. Das wäre unvernünftig«, antwortete Sergej.

»Ihr Dienst besteht daraus, Befehle und Anweisungen zu befolgen. Das Denken gehört nicht dazu.«

»Genosse Generalmajor, wenn wir nicht angegriffen werden, dann wäre das kein Gegenangriff, sondern ein atomarer Erstschlag. Im Nachhinein wird es keine Rolle spielen, wer damit angefangen hat, aber warum sollten wir die Welt ins Verderben stürzen?«

»Sie erlauben sich viel zu viel, Genosse Oberstleutnant. Vergessen Sie nicht, dass …«

 

Der Alarm ging wieder los. Sergej erschrak. In seinem Kopf spukten plötzlich Bilder herum, die er damals nach den Tests gesehen hatte. Die Zerstörung unbewohnter Landstriche ließen erahnen, was mit Moskau oder Leningrad in einem solchen Fall passieren würde.

»Haben Sie auch nur eine Vorstellung, was Sie mit Ihrem untätigen Ungehorsam angerichtet haben? Machen Sie sich auf etwas gefasst …«

 

Sergej legte trotz der Geschreie auf und eilte zurück zu seinem Kontrollpult. Die Abdeckung des roten Startknopfs, mit dem Aufschrift »PUSK«, hatte sich wieder geöffnet.

 

Auf dem Monitor zeigten sich vier blinkende rote Punkte und zahllose weiße. Die Letzteren kennzeichneten die Standorte der amerikanischen Raketensilos. Nur vier davon hatten eine rote, blinkende Mitte. Das Überwachungssystem meldete der Start von vier Raketen aus einer Zone mit mehr als 70.

 

Das war nicht viel, aber doch eine ganze Menge, genug, um vier Großstädte und zahllose Menschen aus der Existenz zu befördern.

 

Auf dem Monitor tauchten keine weiteren roten Punkte auf. Nur noch 30 Sekunden waren ihm geblieben. Danach wäre alles vergeblich. Sergej schlug mit der flachen Hand zu.

 

***

 

»Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll, Genosse Oberstleutnant«, sagte der Politoffizier des Generalstabs. Sergej saß ihm gegenüber auf einem einfachen Stuhl im Bunker des Oberkommandos.

»Genosse General …«, fing Sergej an zu sprechen.

»Kein Wort mehr, Genosse Kurepow. Sie haben im letzten Moment gehandelt. Das allein wäre Grund genug für eine Degradierung. Sie haben sich geltenden Vorschriften widersetzt. Und dann das …«

»Ich tat, was ich tun musste, Genosse General«, antwortete Sergej.

»Nein, das taten Sie eben nicht.«

»Aber …«

»Anstatt den Gegenangriff in die Wege zu leiten, haben Sie die Abdeckung des Startknopfes zugeknallt und wieder beim Generalstab, bei diesem dämlichen Säufer Igor Nikolajewitsch Dodon angerufen, um einen falschen Alarm zu melden.«

»Ich bin bereit, die Strafe auf mich zu nehmen«, sagte Sergej.

»Wir sind jenseits von Reglements, Strafen und sonstigem Schwachsinn angelangt. Wenn man Sie bestraft, kommt das Ganze ans Licht. Dann wird jeder wissen, dass unsere neuesten Überwachungssatelliten Schrot sind, und alles was glänzt als Raketenstart deuten. Wenn man Sie auszeichnet, stünden wir kein Deut besser dar.«

»Und jetzt, Genosse General?«

»Wir haben das im Politbüro mehrmals durchgesprochen und unzählige Male darüber abgestimmt. Das Leben muss weitergehen. Sie werden weder ausgezeichnet, noch bestraft. Sie bleiben auf ihrem Posten. Und Sie schweigen. Ist das klar?«

»Jawohl Genosse General!«, antwortete Sergej.

»Sie können gehen.«

 

Sergej stand auf, salutierte und ging zur riesigen Tür des Büros.

 

»Sergej Konstantinowitsch?«

»Sie wünschen, Genosse General?«

»Nein, der Genosse General wünscht nichts mehr. Der Ehemann und Vater in der Uniform bedankt sich jedoch bei Ihnen von ganzem Herzen.«

 

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