Von Peter Burkhard

Wenn ich an einem Freitag von der Arbeit komme und Jenny geputzt hat, riecht es bei uns nach Zitronengras und Ingwer oder nach Sandelholz. Die Düfte in unserer Wohnung verraten mir normalerweise wo’s langgehen wird. Aber heute war nichts normal: Meiner Mutter ging es wieder schlechter und nun noch diese Episode in der Schule. Kein Wunder also, dass ich, als ich heute Nachmittag auf den Balkon trat, keinen Gedanken an die Düfte in der Wohnung verschwendete.
Jenny ruhte mit nacktem Oberkörper im Schatten auf der Sonnenliege und las Friedhof der Kuscheltiere. Mein Blick streifte gleichgültig ihre ebenmässig gebräunte Haut. Am Boden neben ihr lagen eine angebrochene Packung Kokos-Kekse und eine leere Tasse mit den typischen Rändern eingetrockneten Kaffees.
Im Tempo einer gelangweilten Schildkröte riss sie sich von den Zeilen des Grauens los, sah mich an und schob die Lesebrille ins marongetönte Haar. „Hallo Liebster. Und, wie war dein Tag?“
„Beschissen, mir geht’s nicht gut.“
„Hmm, wegen Mama?“
„Na ja auch, aber da ist noch was.“
Ich liess mich mit einem Seufzer in einen Stuhl fallen und wartete.
„Was denn, ist etwas vorgefallen?“ Die Message schien nun doch angekommen zu sein. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Kekse hin. „Willst du?“
„Danke, nein.“ Nach kurzem Zögern spuckte ich es aus: „Ich habe heute Vormittag einen Schüler geschlagen.“
„Wie geschlagen? Wie meinst du das?“
„Was, wie geschlagen? Mit der flachen Hand. Zweimal. Ins Gesicht.“
Jenny liess das Buch zu Boden sinken und ich bemerkte, wie sich ihre stahlblauen Augen weiteten.
„Upps! Was war denn der Grund?“
„Ich erzähl’s dir, gleich. Aber gib mir zuerst ein paar Minuten bitte.“ Ich streckte die Beine von mir, verschränkte die Arme im Nacken und schloss die Augen.

* * *

„’tschuldigung, tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen!“ Das kleine Mädchen, welches mich auf dem Schulhof schier umgerannt hätte, wischt sich den Mund ab, kichert verlegen und gesellt sich mit ihrem klebrigen Schokoladenapfel wieder zu ihren Freundinnen.
Ich überprüfe kurz mein rechtes Hosenbein, es sind keine Spuren des Zusammenpralls zu sehen.
„Schon gut“, möchte ich ihr nachrufen, „es ist nichts passiert.“ Aber die Kleine ist bereits weg.
Ich hasse die Aufsicht in der grossen Pause. Trotz meiner fünfunddreissig Jahre Schuldienst hält unser Rektor daran fest, dass auch ich dieser beschissenen Pflicht nachzukommen habe, hundertzwanzig Halbwüchsige und noch mehr Küken der Grundschule zu hüten. An sonnigen Tagen, wenn sich die Kinder auf dem ganzen Areal verteilen, mag die Aufgabe ja noch angehen. Aber heute hat man sie ins Freie geschickt, obwohl es nieselt, ein riesiger kribbliger Haufen, der sich unter den paar wenigen gedeckten Plätzen des Schulhofs zusammendrängt.

Ich befinde mich auf meiner zweiten Runde ums Schulhaus, als ich in einiger Distanz vier Grundschüler erblicke, von denen der eine anscheinend verletzt am Boden kauert.
Zwei seiner Kameraden stürzen auf mich zu: „Kommen Sie bitte. Schnell. Die haben Daniel zusammengeschlagen.“
Der Junge hockt wimmernd und vornübergebeugt unterhalb einer kleinen Treppe und hält sich den leicht blutenden linken Ellbogen. Remo, der jüngere Sohn unserer Nachbarn, sitzt daneben, einen angebissenen Apfel in der Hand und starrt mich erwartungsvoll an.
„Wir kennen den, der’s war“, meint der Bengel mit der John-Lennon-Brille.
Ich ignoriere seinen Hinweis und wende mich dem Opfer zu: „Du bist Daniel?“
Nach einer kurzen Einschätzung der Lage schicke ich das Häufchen Elend, dessen Verletzung sich als harmlose Schürfung herausgestellt hat, ins Lehrerzimmer.
„Lass dich dort verarzten und anschliessend gehst du direkt zurück in die Klasse. Ich versuche unterdessen herauszufinden, was hier genau vorgefallen ist.“
„Ich geh mit ihm!“ Remo springt auf und wirft den Rest seines Apfels ins Gebüsch. „Bitteee!“
„Ja gut, mach das. Du kannst ihn begleiten.“
„Also, nun schiesst mal los“, ermuntere ich die zwei Verbliebenen, „erzählt mir, wer euren Kameraden verhauen hat.“
„Also, es war so …“ Der Junge bricht unvermittelt ab und blickt mit erstarrter Miene auf die andere Seite des Schulhofs. Drei Realschüler schlendern uns von dort entgegen. Als sie mich zusammen mit den Knirpsen wahrnehmen, machen sie wie auf ein unhörbares Kommando auf dem Absatz kehrt.
„Die dort, einer von denen war’s!“, raunen mir die beiden zu.
„Wie heisst derjenige, der Daniel geschlagen hat?“
„Robert“, entfährt es dem Kleinen mit der John-Lennon-Brille. Er stellt sich hinter mich, wohl ahnend, welche Folgen sein Anschwärzen nach sich ziehen könnte.
Ich nähere mich dem Grüppchen mit ein paar schnellen Schritten.
„Hey, Moment mal, ihr drei! Bleibt mal stehen! Hey, habt ihr verstanden? Ihr sollt stehen bleiben!“
Das Trio stoppt zögerlich. Langsam und mit einem plump aufgesetzten Fragezeichen im Gesicht drehen sich die Jungs um und harren mit einer Was-willst-denn-du-von-uns-Miene der Dinge, die sie erwarten.
„Wer von euch dreien hat den Kleinen verhauen?“
Schweigen.
„Wer von euch ist Robert?“
Der längste der Teenager, ein schlaksiger Blondschopf, schiebt sich seelenruhig einen Kaugummi in den Mund und bemüht sich lächelnd um ein kaum verständliches „Ich. Warum?“

* * *

Ich musste eingenickt sein und schrak auf, als ich Jennys warme Schenkel spürte.
Sie hatte sich mir auf den Schoss gesetzt und war daran, ohne Hektik mein Hemd aufzuknöpfen. Sie selbst hatte sich ein ärmelloses, pinkfarbenes Shirt übergezogen, von dem mich Andy Warhols Madonna über ihre prallen Rundungen anlächelte.
„Lass uns an etwas Schönes denken Liebling, du scheinst mir ziemlich durch den Wind zu sein.“

Robert meldete sich, schob sich zwischen uns und grinste mich an.

„Schatz, ich bin mir nicht sicher, ob du mich verstanden hast. Ich habe ein ernsthaftes Problem, ich habe einen Schüler geschlagen, weil ich die Kontrolle über mich verloren habe und du, du willst Sex?“ Ihr seidenes Haar verströmte einen betörenden Hauch von Sandelholz.
„Ich möchte, dass du auf andere Gedanken kommst, aber wenn du unbedingt reden willst, okay, dann lass uns reden.“
Sie liess von mir ab, lehnte sich rücklings ans Geländer des Balkons und schob schmollend ihre Unterlippe nach vorn.
„Also, ich höre, worum ging es denn?“
„Ich wollte einer Auseinandersetzung unter Schülern auf den Grund gehen. Es drehte sich um einen Realschüler, der auf dem Pausenhof einen Grundschüler verprügelt hatte, der ihn angeblich provoziert hatte.“
„Und deshalb hast du ihm eine geknallt oder zwei?“
„Hast du eine Ahnung davon, wie dich ein vierzehnjähriger Lümmel in Kenntnis deiner Ohnmacht zur Weissglut treiben kann? Er glaubte haargenau zu wissen, dass ich ihm nichts anhaben konnte. Mit seinen beiden Kumpanen an der Seite fühlte er sich unangreifbar, aber da hat er sich letztlich getäuscht. Ich Idiot bin ihm voll ins Messer gelaufen.“
„Wie hat er und wie haben seine Kumpels reagiert?“
„Gelacht hat er. Er lachte mir ins Gesicht, zog eine Riesenshow ab. Unterdessen stand eine ganze Traube um uns herum und amüsierte sich köstlich. Vor allem über mich natürlich und über meine verdammte Unbeherrschtheit.“
„Jetzt übertreib mal nicht und beruhige dich wieder, er wird es verdient haben. Ich hol dir was aus dem Kühlschrank.“
„Ach Jenny, lass mich einfach in Ruhe. Mir geht’s mies, mich peinigt mein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht im Griff hatte und du … Ich fasse es nicht. Kapierst du denn nicht, worum es mir geht? Erkennst du nicht den Widersinn meines Handelns? Ich wollte ihm klarmachen, dass man Probleme nicht mit Gewalt löst, indem ich ihm ein paar geschmiert habe. Blöder geht es ja kaum mehr.“
„Okay Liebling, ich hab’s begriffen. Du hast versagt, aber jetzt mach einen Punkt. Ich will mir von dir nicht den schönen Abend …“
Das Schrillen des Telefons im Wohnzimmer unterbrach Jennys empörte Reaktion. Sie löste sich vom Geländer, warf mir einen vernichtenden Blick zu und stampfte wortlos in die Wohnung.
„Ja, am Apparat! Ich habe Sie nicht verstanden, mit wem spreche ich?“
Im Glas der Balkontür sah ich meine Frau, die angespannt zuhörte und sich auf die Lippen biss.
Bleierne Stille, dann ein leises Aufschluchzen.
Ich sprang auf und trat ins Innere.
Tränen liefen ihr über die Wangen. „Haben Sie vielen Dank. Ja, das werden wir tun. Nochmals, danke, auch für das, was Sie für uns getan haben. Ja, ich werde es ausrichten, auf Wiedersehen.“
„Mama, ist sie …?“
Jenny senkte den Blick und nickte.

 

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