von Gabriele Sodeur

Immer wieder streicht Regina um die Schaufenster herum, schaut sich die Auslagen an, will nach innen sehen. Sie hält die Hände seitlich an die Augen wie Scheuklappen, guckt dazwischen in den Laden hinein, sieht die hohen Regale, gefüllt mit Stoffballen, geht weiter, und denkt den ganzen langen Nachhauseweg über die verschiedenen Stoffmuster nach. Tag für Tag. Was gibt‘s innen wohl noch für andere Stoffe? Ob sie auch auch kleine Blumenmuster haben? Oder Punkte? Morgen werde ich reingehen. Ob man das darf, nur gucken?

Ihre Schritte werden immer langsamer, ihr Nachhauseweg immer länger. Schon kommen ihr Schüler entgegen, die Nachmittagsunterricht haben und sie ist immer noch auf dem Heimweg von der Schule, versunken in ihre Gedanken. Sie überlegt wie die Bluse aussehen, welchen Schnitt sie haben soll. Dabei bewegen sich ihre Lippen, so als ob sie Selbstgespräche führte.  

*

„Da, Karla, komm mal und guck dir das an, da kommt sie schon wieder und drückt sich fast die Nase platt an der Scheibe, um reinschauen zu können. Jeden Tag. Jeden Tag macht sie das.“
„O je, Doris, da können wir nachher gleich wieder mit dem Fensterleder ran gehen. Diesmal bist du aber dran!“
„Wie alt ist das Mädchen?“
„Keine Ahnung. Vierzehn, fünfzehn? Lässt sich schlecht schätzen, sie ist ziemlich groß.  „Psst! Heute kommt sie rein.“ 

*

„Grüß Gott“
„Grüß Gott, kann ich irgendwie behilflich sein?“
„Ich möchte erst mal nur schauen, darf ich das?“
„Ja, natürlich, sehr gern!“
Regina geht in dem Laden umher und schaut sich die Regale an, die von unten bis oben unter die Decke mit Stoffballen bestückt sind. In allen Farben liegen die aufgewickelten Stoffe übereinander.
Es ist kurz vor Mittag und niemand sonst mehr im Laden, außer den beiden Verkäuferinnen. Die stehen hinter der Ladentheke und beobachten genauestens jede ihrer Bewegungen. Das Radio ist bereits ausgeschaltet und es herrscht eine fast schon beklemmende Stille.
„Ich suche einen Stoff.“  Regina schaut die eine Verkäuferin unsicher an.
„Aha, und was soll es für einer sein?“ fragt diese sichtlich lustlos.
„Da oben im Regal ist ein Blümchenstoff, kann ich den mal sehen?“
„Ja natürlich, gern, Moment, da brauch ich eine Leiter.“  Sie wirft einen Blick an die Decke in Richtung ihrer Kollegin: „Wären Sie bitte so freundlich und bringen mir mal die Leiter, Karla?“ 
„Also das hier wäre ein Baumwollbatist.“ Die Verkäuferin wuchtet den Ballen runter; der  poltert mit einem dumpfen Geräusch auf den Ladentisch.
„Was willst Du – äh, wollen Sie …
„Sie können ruhig Du sagen, ich bin ja erst elf.“
„Erst elf? Dafür bist Du aber sehr groß. Du bist bestimmt die Größte in der Klasse, oder?“
Regina sagt nichts dazu.
„Ja, also, was willst Du denn nähen aus dem Stoff?“ fährt die Verkäuferin fort „Lernt Ihr  schon mit elf Nähen in der Schule?“
„Es soll eine Bluse werden.“ Regina deutet wieder hoch auf das Regal:
„Da oben, da seh ich noch so einen weißen Stoff mit blauen Pünktchen, würde der sich auch dafür eignen?“
„Der da ganz oben?“, die Verkäuferin verdreht wieder die Augen, „ja, das ist ein Nylonstoff, der wäre ganz bestimmt etwas für ein hübsches Blüschen, der ist sogar bügelfrei.“
Sie  klettert wieder die Leiter hinauf und balanciert den Ballen über ihrem Kopf :                “Karla, wären Sie so gut und nehmen mir diesen Stoff mal ab?“, flötet sie sichtlich genervt und schiebt dann hinterher: „würden Sie bitte diese junge Dame weiter bedienen?“, sie wendet sich dem Mädchen zu: „Du nimmst doch diesen Stoff, oder? Ich habe  jetzt nämlich Mittagspause.“
Karla nimmt ihr den Stoffballen ab und legt ihn zu dem anderen auf den Ladentisch. Geschickt  rollt sie den Stoff vor dem Mädchen aus und streicht ihn glatt:
„Es ist ein Nylonstoff, bügelfrei, liegt ein Meter vierzig, ein Meter kostet neunundzwanzig Mark neunzig. Für eine Bluse brauchst du die doppelte Länge, Moment, ich mess mal ab, sie soll doch für dich sein, oder?“ Und während sie ein Metermaß aus der Schublade nimmt: „Näht ihr das gerade im  Handarbeitsunterricht, in welcher Klasse bist du denn?“ Die gleichen Fragen, wie vorhin prasseln auf Regina herab. Als die Verkäuferin das Maß anlegen will, wehrt das Mädchen ab, wird rot, druckst herum und presst schließlich heraus: „Zehn Zentimeter. Ich brauche zehn Zentimeter, es soll eine – Puppenbluse werden.“

Puppenbluse, Fräulein Karla schluckt und schaut Regina an, als hätte diese gerade etwas ganz Ungeheuerliches gesagt. Dann nimmt sie mit unwilliger Miene den hölzernen Zollstock, misst die zehn Zentimeter Länge ab und schneidet  mit einer Schere, orientiert an den blauen Pünktchen, den gewünschten Stoffstreifen von der dicken Rolle herunter:

 Zehn Zentimeter. Nylon, bügelfrei. Für zwei neunundneunzig …

**

 

V3
4.712