von Marcel Porta

„Ah, jemand Neues! Was führt dich her auf unsere Insel der Schamlosigkeit?“

„Ein Hallo in die Runde. Euer Motto: Selbsthilfe für Schamkranke und der Titel: Insel der Schamlosigkeit, haben mich neugierig gemacht.“

„Wir alle hier in diesem Chatroom haben unsere Gründe, uns zu schämen. Aber in diesem Raum ist das verboten.“

„Das heißt, ihr seid ehrlich zueinander … und niemand schämt sich vor den anderen für das, was er von sich erzählt?“
„Genau das ist der Plan. Wir benutzen nur unsere Vornamen, so bleibt die Anonymität gewahrt. Ich heiße Kevin.“
„Gut, ich bin Marianne und ich schäme mich, weil ich dick bin.“

„Aber nicht hier. Dafür bist du doch hergekommen, oder?“
„Ja, genau deshalb. Aber ich habe untertrieben, ich bin sogar extrem fett. Nicht einmal meine Mutter weiß, was ich jetzt hier bekenne: Ich wiege 190 Kilo. Und bin 164 cm groß. Das ist ein BMI von über 70!!!!“
„Ganz schön viel Marianne!“

Ein Spaßvogel, denkt Marianne. Viel Marianne, ja, das stimmt. Zu viel davon. Hoffentlich bin ich da nicht in einen Kreis Fettleibiger geraten. Denn übers Essen will ich hier kein Wort lesen. Bin mal gespannt, was die anderen hierhergeführt hat. Aber erst will ich noch ein bisschen erzählen, warum ich so verzweifelt bin. Wer nicht selber so dick ist, kann das sonst vielleicht gar nicht verstehen.    

„Es ist ein Teufelskreis: Ich traue mich nicht mehr unter Leute, weil ich mich für mein Äußeres schäme. Und je einsamer und deprimierter ich bin, desto mehr esse ich. Irgendwann kann man mich nur noch mit dem Kran aus dem Bett hieven.“
„Deinen Humor hast du aber noch nicht verloren.“

„Ohne ihn wäre ich sicher schon tot. Freunde habe ich schon lange keine mehr. Deren mitleidige Blicke habe ich nicht mehr ertragen. Ich habe einen nach dem anderen abserviert. Auch dafür schäme ich mich, aber das ist nur wie ein Streichholz im Vergleich zu dem Waldbrand an Scham über meine Fettleibigkeit.“
„Aber formulieren kannst du toll!“

„Essen ist für mich Himmel und Hölle. Bei jedem Bissen weiß ich, dass ich das Falsche tue. Wieder einmal habe ich der Versuchung nicht widerstehen können. Das Abnehmen wird von Tag zu Tag verschoben. Morgen, ja da beginne ich mit dem Fasten! Und am Ende siegt doch immer wieder der nagende Hunger.“

„Und dann schämst du dich. Vor den Leuten.“

„Scham ist mein ständiger Begleiter. Sie entzieht mir jede Lebenslust und -energie.“

„Dann um so willkommener hier in der Schamlosigkeit.“

„Und ihr, warum seid ihr hier?“

„Nun, wir beurteilen hier grundsätzlich nicht die Gründe unserer Scham, das solltest du bedenken, bevor ich dir was über mich erzähle. Ich heiße Bille und bin Kleptomanin. Und obwohl ich mich jedes Mal zu Tode schäme, kann ich das Stehlen nicht lassen. Es ist hoffnungslos. Sogar Freunde bestehle ich. Habe ich bestohlen, um genau zu sein, denn ich habe schon lange keine mehr. Freunde meine ich.“
Ganz wie bei mir, denkt Marianne. Keine Freunde mehr. Aber schon seltsam, dass jemand das Klauen nicht lassen kann. Fressen ist eine körperliche Sucht, denke ich, aber der Drang zum Stehlen steckt doch wohl ausschließlich im Kopf. Oder? Aber klar, diese Bille hat wirklich Grund, sich zu schämen. Wenn ich mir vorstelle … brr, da gruselt es mich.

„Ich verstehe dich“, schreibt Marianne zurück.

„Ich heiße Hannes und bin sexsüchtig. Das kann ich nur hier in unserem geschützten Raum zugeben. Ich bin verheiratet mit der besten Frau, die ich mir wünschen kann, und dennoch betrüge ich sie andauernd. Ich bin Musiker von Beruf und ständig auf Bühnen zuhause. Die Mädchen schmeißen sich mir an den Hals und ich kann nicht Nein sagen. Hinterher verachte ich mich und die Scham brennt mir Löcher in die Haut. Und beim nächsten Mal …“

Hannes schrieb nicht mehr weiter und eine Zeitlang herrschte Stille im Chat.
Was es doch alles gibt, denkt Marianne. Meine eigene Sexualität ist so verkümmert, dass ich mir schon gar keine Situation mehr vorstellen kann, in der ich Lust empfinde. Stark ausgeprägt war sie eh nie, aber dass sie jetzt so völlig verschwunden ist, war mir bis gerade eben gar nicht aufgefallen. Wenn ich mir vorstelle, von meinem Mann so betrogen zu werden … der soll sich wirklich was schämen! Aber ich bin ja wohl die Letzte, die den ersten Stein schmeißen darf.      

„Ich heiße Simon und komme schon lange hierher. Ich bin drogensüchtig und verkaufe meinen Arsch, um an das nötige Geld zu kommen. Täglich mehrmals, dabei bin ich nicht schwul oder so. Auch wenn ich manchmal nach einem Blowjob kotzen muss und ich am liebsten sterben würde … die Sucht lässt es nicht zu, dass ich damit aufhöre. Wenn ich diese Insel nicht gefunden hätte, wo ich mich für das, was ich bin, nicht schämen muss, wäre ich bestimmt schon nicht mehr am Leben.“

Mann, was für ein Schicksal, denkt Marianne. Wie gut, dass ich immer die Finger von diesem Teufelszeug gelassen habe. Nicht mal Zigaretten habe ich angerührt. Sich so zu prostituieren, weil man einfach nicht davon loskommt … ob ich das auch tun würde, wenn das Essen so teuer wäre wie Drogen? Lieber nicht drüber nachdenken!     

„Na, Marianne, verträgst du noch was, oder hast du schon die Nase voll von uns Freaks?“
„Ich bin geplättet über eure Offenheit. Und über die Vielfalt der Gründe, für die man sich schämen kann. Oder eben nicht, hier auf eurer Insel.“
„Wenn du willst, wird es auch deine Insel sein. Ich heiße Claudia und außer in diesem Raum hat niemand eine Ahnung, wie es in mir aussieht. Und dass ich mich dafür schäme. Ausschließlich vor mir selber, aber das macht es kein Stück leichter.
Ich habe Zwillinge, die sind jetzt zwei Jahre alt. Ich liebe sie wirklich über alles, aber seit ihrer Geburt bin ich ständig überfordert. So sehr, dass ich begonnen habe, Kinder zu hassen. Das ist nicht nur so daher gesagt, manchmal würde ich sie am liebsten umbringen. Wenn ich in der S-Bahn das Schülergeschrei höre, könnte ich eine Bombe reinwerfen. Die Hebamme im Haus gegenüber, mit der ich früher befreundet war, ist mir jetzt zuwider. Ich komme mir vor wie ein Monstrum, aber: hier steh‘ ich und kann nicht anders.“

Niemand weiß, wie es in einem anderen aussieht, denkt Marianne. Sicher halten alle sie für eine liebevolle Mutter und nichts anderes. Dabei ist sie ein wandelndes Pulverfass. Wie es wohl dazu gekommen ist, pure Überforderung kann das nicht nur sein. Aber das brauche ich nicht zu hinterfragen, solange ich nicht mal weiß, warum ich so die Fresssucht habe.

„Dann will ich jetzt noch einen draufsetzen, Marianne. Ich heiße Doris und bin Messie und habe eine bipolare Störung. Mein Mann ist Lehrer und kommt mittags zum Essen nach Hause. Auch die beiden Kinder sollten dann etwas zu Essen auf dem Tisch haben. Aber kannst du dir vorstellen, dass ich das nicht hinkriege? So sehr ich mich auch bemühe, ich komme nicht aus dem Bett. Je später es wird, desto größer wird die Panik. Und die Verzweiflung, weil ich es schon wieder nicht schaffe. Dabei kann ich ja aufstehen, nur eben nicht, wenn es von mir erwartet wird.“  

Es gibt schon schlimme Schicksale, denkt Marianne. Da können einem der Mann und die Kinder leid tun. Unter meinem Gewicht leide wenigstens nur ich. Aber mit so einer Mutter aufzuwachsen muss die Hölle sein. Vielleicht sind meine eigenen Probleme gar nicht so schlimm. Fett sind doch viele. Und vielleicht schaffe ich es ja doch irgendwann …

© Marcel Porta, 2016
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