von Friederike Unkenholz

Sie steht an der Bar und ihr Blick versucht den Barkeeper zu erreichen, bis er sich an die Gläser in der Vitrine heftet und versinkt.
Ich hab schon wieder vergessen, den Müll runterzubringen, daran muss ich unbedingt denken. Und auch unbedingt an das SEPA-Mandat für die Stadtwerke. Verdammt, warum hab ich nichts zu schreiben dabei – Handy? Nein, egal, wenn ich es schaffe, heute dran zu denken, dann kann ich mich auch morgen dran erinnern. Ein bisschen mehr Selbstvertrauen, meine Liebe! Diese ganzen Listen machen dich sowieso nur verrückt – hab ich eigentlich die Kaffeemaschine ausgemacht? Hoffentlich. Egal. Das krieg ich morgen alles hin.
„Ganz schön schöne Gläser, nicht wahr?“ Sie erschrickt und lächelt verlegen ins Gesicht ihres Gegenübers.
„Oh, hi. Ja, ich glaube, meine Freundin hat die gleichen.“ Er streckt seine Hand aus: „Maik.“
„Hi Maik, Sarah.“
„Schön dich kennen zu lernen, Sarah. Also, während wir hier auf unsere Getränke warten, warum erzählst du mir nicht, was du beruflich so machst?“
„Ähm, ich bin in einer Sanitär- und Heizungsbaufirma. Da bin ich in der Personalabteilung und mache Mitarbeitermotivation und sowas und naja, so ein bisschen Finanzkram halt. Und was machst du?“
Und Montag muss ich dann unbedingt daran denken, die Angebote rauszuschicken. Sollte eine Kleinigkeit sein, ich gehe einfach ins Büro und mache das als allererstes und dann ist das weg. Es ist wirklich keine große Sache, aber es stresst mich und mein Chef erst, wie er einfach so nebenbei „Kannst du das nochmal schnell?“ und ich habe tausend Sachen im Kopf, aber was soll ich machen? Was soll er denn denken, wenn ich nicht mal so eine zwei-Minuten-Sache schaffe? Die anderen machen schließlich auch noch mal eben tausend Sachen nebenbei. Aber ich kann nicht mehr, vielleicht bin ich einfach nicht gemacht für den Job. Ich schaff das alles nicht, ich meine, wie soll ich das denn machen? Wie soll das alles funktionieren und wie zum Teufel machen die anderen das eigentlich? Wieso krieg ich das nicht hin? Ich sollte es hinkriegen. Ich muss einfach noch ein bisschen an mir arbeiten, noch etwas besser und noch etwas schneller, dann wird das schon. Und einkaufen muss ich auch noch.
Er reicht ihr den Martini und erzählt ihr, dass er für sein Leben gern kocht. Wenn sie möchte, würde er sie gerne mal zum Essen einladen. Was ihr Lieblingsessen sei, wollte er wissen, als wenn sie das so einfach sagen könnte, als wäre es die einfachste Frage der Welt. Sie räuspert sich und nimmt noch einen kleinen Schluck Martini. Dann reißt sie sich zusammen und lächelt: „Weißt du, bei mir kann man nicht viel falsch machen, ich esse eigentlich alles.“
„Und uneigentlich? Was magst du am liebsten?“
„…Dessert.“
Ich hab schon wieder die ganze Woche nur auswärts gegessen, das geht so nicht mehr. Es geht einfach alles nicht mehr. Oh man, worüber beschwere ich mich hier eigentlich? Ich habe ein gutes Leben, ich kann mich glücklich schätzen. Ja, ich sollte wirklich glücklich sein. Ich weiß das. Ich weiß nur nicht, warum ich es dann nicht bin. Wie kann ein Mensch so schrecklich sein und bei all dem Abfuck auf dieser verfluchten Welt so ignorant und überheblich sein und so ein verflucht schönes Leben wie ich es habe, nicht wertschätzen? Nein, ich brauche unbedingt noch mehr und noch schöner und noch größer. Verflucht bin ich.
Als hätte sie schon stundenlang nach ihr gesucht, springt Sophie Sarah förmlich an: „Sarah! Hier steckst du, ich hab dich schon überall gesucht! – Oh, hi! Entschuldigung, ich bin Sophie!“
„Maik, hi.“
Sie geben sich die Hand.
„Ich wollte nicht stören, tut mir leid.“
„Oh nein, nein. Komm, ich bestell dir was zu trinken.“
Naja, wobei es ja schon irgendwie Sinn macht, wenn man sich so unglaublich inkompetent fühlt. Und nirgendswo richtig hin passt. Gibt es irgendetwas, das ich so richtig gut kann? Wo ich sagen kann „Total mein Ding!“? Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Bis jetzt hab ich noch nichts richtig hingekriegt. Auf der Arbeit könnte ich sicher auch noch tausendmal besser sein. Ich kann ja nicht mal für mein eigenes Essen sorgen. Eine tolle Freundin bin ich jetzt auch nicht unbedingt, ich kann nicht einmal mehr sagen, wie es Sophie gerade geht. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal richtig zugehört hab. Ich weiß auch nicht, wann ich das letzte Mal ehrlich glücklich war. Und das bei meinem Leben, ich verstehe es einfach nicht. Wieso kann ich das nicht?
„Sarah und ich haben gerade darüber geredet, dass sie Wassersport mag, ich bin ja eher so der Wandertyp. Wofür würdest du dich entscheiden?“ Unauffällig wirft Sophie Sarah einen fragend-strafenden Blick zu.
„Also, ich lieg am liebsten am Strand, während Sarah gegen die Wellen kämpft. Aber wenn ich mich unbedingt entscheiden müsste, wäre ich wohl auch eher beim Wandern dabei.“ Sie nimmt ihren Martini entgegen und versucht noch einmal, Sarah einen Blick zu entlocken.
Habe ich das mit dem Wassersport tatsächlich so gesagt? Ich meine, es stimmt, es gab mal eine Zeit, in der ich sehr viel Wassersport gemacht habe. Ich sollte mehr Dinge machen, die ich früher auch gern gemacht habe. Ich hab auch gern Tennis gespielt und gemalt. Aber wann soll ich das machen? Ich brauch doch irgendwann auch mal Zeit, um einfach nur abzuschalten und Kraft zu tanken. Vielleicht hilft mehr Sport. Ja, damit versuche ich mal wieder anzufangen. Morgen. Aber eigentlich hab ich morgen schon so viel vor. Eigentlich will ich auch einfach nur mal wieder Ruhe und entspannen und nicht wie eine Verrückte durch die Gegend rennen. Könnte jemand vielleicht diesen Kopf ausschalten? Könnte mir vielleicht jemand dabei helfen? Brauche ich Hilfe? Mir geht es nicht gut. Wirklich nicht. Übertreibe ich? Ich neige zu Dramatisierungen, ich weiß das. Eigentlich ist doch alles ok. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber es ist da. Ich kann es fühlen, in meinem Bauch und es macht mir Angst und es macht mich verrückt. Gott, dieser Bauch. Da ist etwas und das bin nicht ich, aber es ist da und es macht schwer und müde. Verdammt. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich kann es nicht erklären, aber es frisst mich auf. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte, es tut ernsthaft weh. Wenn ich nur mit jemandem reden könnte, warum kann ich das eigentlich nicht? Ich weiß nicht, wieso ich so furchtbar bin. Da stimmt doch was nicht mit mir – hör dir doch mal selbst zu, wie erbärmlich! Reiß dich gefälligst zusammen!
Maik entschuldigt sich, er müsse mal seinen natürlichen Bedürfnissen nachgehen, Sophie nutzt die Gelegenheit und nimmt seinen Platz neben Sarah ein um ein intimes Gespräch anzukündigen.
„Er ist süß.“
„Ja.“
„Und wieso genau?“
Sarah versucht ihren sarkastischen Ton aufzulegen, ohne zu hart zu klingen.
„Was soll ich denn sagen, wenn er nach meinen Hobbies fragt? Aus dem Fenster starren und manchmal auch mit Kopfhörern auf den Ohren vorm Badezimmerspiegel tanzen?“ Sie lächelt, damit Sophie sich keine Sorgen macht. Es sollte sich nicht so sehr nach Selbsthass anhören. Sophie sieht sie an und unterdrückt den Drang, eine Hand auf ihre Schulter zu legen.
„Geht’s dir gut, Sarah? Ich meine, ehrlich, bist du okay?“
„Ja, natürlich. Alles gut.“ Sarah sieht an die Decke, nimmt noch einen Schluck, atmet einmal durch und denkt sich selbst weit weg. „Es geht schon. Ich weiß selbst nicht genau, was los ist, es ist total bescheuert. Ich hab viele Zweifel im Moment und einfach viel zu tun. Du kennst mich ja, da komme ich schnell ins Grübeln. Aber keine Sorge, alles gut, ich komm schon klar. Ich meine, hast du diesen Typen gesehen? Mir geht’s gerade mehr als gut!“
„Okay, aber wenn du mich brauchst, dann bin ich für dich da, ja?“
„Weiß ich doch. Danke. Soll ich ihn fragen, ob er einen Freund für dich hat?“
Ich kann mich so glücklich schätzen, eine Freundin wie sie zu haben. So unheimlich glücklich. Aber sie würde mich für verrückt halten. Wie kann ich ihr denn klar machen, wie es mir geht, wenn ich selbst nicht weiß warum? Wie soll sie das verstehen können? Ich versteh es ja selbst nicht. Wie kann mir jemand helfen, wenn ich das nicht sagen kann? Kann mir überhaupt jemand helfen? Würde das überhaupt jemand verstehen? Dieses hier sein und doch nicht hier sein? Ich brauch noch einen Martini. Oder zehn. Durchatmen und Weitermachen. Weiter machen. Kopf aus. Jetzt. Es geht dir gut, du bist jetzt hier und da ist ein wahnsinnig attraktiver Mann hinter dir her. Los, Sarah. Du schaffst das. Und morgen kümmerst du dich dann um alles und dann geht es bergauf. Das Angebot, Einkaufen, die Kaffeemaschine und … was war da noch? Ich hab doch irgendwas vergessen, oder?
Einige Stunden später legt er seinen Arm um ihre Hüfte, als sie aufstehen um zur Garderobe zu gehen. Sie hatten einen traumhaften Abend an der Bar. Keiner von beiden hatte mit einer so netten Begegnung gerechnet. Er nimmt endlich seinen Mut zusammen und fragt, ob er sie nach Hause bringen dürfe. Da lässt ihr Lachen nach und ihre glasigen Augen – vermutlich vom Alkohol – suchen nach einem Fluchtweg, bis sie sich schweren Herzens für die Wahrheit entscheidet: „Maik, ich hatte einen furchtbar netten Abend und du bist mir sehr sympathisch. Aber weißt du, eigentlich ist es so … ich bin im Moment … ich glaube einfach nur, dass … es ist im Moment nicht der richtige Zeitpunkt, um einen so klasse Kerl wie dich zu treffen. Hört sich nach einer billigen Abfuhr an, ich weiß. Aber ich meine es wirklich ernst. Ich möchte einfach nur eine Weile alleine sein.“ Zumindest die halbe Wahrheit. Sie nimmt ihren Mantel und lässt ihn stehen, um genau das zu sein, was sie nicht sein will: allein mit etwas, was sie nicht benennen kann, irgendwie allein mit sich.