Von Mona Ullrich

1.

Der Berliner Frühling kann hart sein. Wenn bereits die ersten Blumen an den Straßenrändern und in den Gärten hervorkommen, ist die Frostgefahr noch nicht vorbei. Noch immer drohen Schnee und Eis.

Im März hatten wir einmal Besuch da, meine Schwiegermutter aus Stuttgart, die auf einer Israelreise kurz bei uns abstieg. Wir gingen mit ihr in ein Café in der Innenstadt und stellten dabei entsetzt fest, dass wir uns kaum sicher bewegen konnten. Die Straßen waren glatt, und auf den Gehsteigen hatten sich große Eisplatten gebildet, mit ein paar nackten Stellen zum Drauftreten.

Da balancierten wir. Wir mussten uns so anstrengen, dass wir die Kälte kaum noch bemerkten. Berlin wurde damals mangelhaft geräumt.

Nachdem wir uns in dem Café ein bisschen aufgewärmt und ausgeruht hatten, fuhren wir nach Spandau, weil meine Schwiegermutter dort eine Dame in einem Altenheim besuchen wollte. Mein Mann und ich wollten so lange spazieren gehen.

Wir wollten, aber wir konnten nicht. Wieder die großen, diesmal schier unendlichen Eisplatten, die von dem Pflegeheim wegführten. Und ein starker, eisiger, bösartiger Wind. Wir kehrten nach wenigen Schritten entnervt um.

Wir sind dann im Altenheim spazieren gegangen, auf den Korridoren. Da war es hell und warm.

 

2.

 

Und ein Sommer im Südschwarzwald. Das war vor vielen Jahren.

Wir besuchten meine Großmutter in Waldshut-Tiengen. Mein Bruder war damals vierzehn Jahre alt und ich fünfzehn. Wir hatten gerade Ferien.

Die ganze Familie war niedergeschlagen, weil es dauernd regnete. Wir hatten doch wandern gewollt! Und vespern im Freien.

Meine Großmutter brachte meine Eltern gegen sich auf mit dem Spruch: „So lange es keine Steine hagelt, kann man unten durch laufen!“

Ich wehrte mich gegen die düstere Stimmung. „Komm, wir nehmen uns Schirme und wandern!“ schlug ich meinem Bruder vor. „Wir könnten zur Küssaburg gehen.“

Die Küssaburg liegt in der Nähe von Tiengen. Aber durch den Wald dorthin und dann wieder zurück ist man den ganzen Nachmittag unterwegs.

Wir hatten ja Zeit. Ich hatte einen Schirm, Wolfgang hatte einen Schirm, und der Regen war still und kühl.

Wir kehrten zu einem Vesper in dem kleinen Ort bei der Küssaburg ein. Schlachtplatte. Damals aßen wir gern und viel.

Und dann den Berg hinauf zu der Burg. Der Regen rauschte in den Bäumen. Der Ort war verlassen. Das Gras war vom Regen tiefgrün.

Auf dem Rückweg kamen wir an einer Wiese vorbei, auf der krüppelige alte Obstbäume standen. Die schauten wir uns neugierig an. Und entdeckten einen Kirschbaum mit kleinen schwarzen Früchten. Die hätte man nirgends verkaufen können, aber sie schmeckten wunderbar.

Das war jener Nachmittag: mit den Schirmen unter dem Baum und die Süße der Kirschen in der frischen Regenluft.

 

3.

 

Ein besonderes Wetter erlebte ich auch in England. Dort hielten wir uns zu einem Sommerkurs für Studenten an der Hochschule von Brighton in Eastbourne auf. Wir trafen dabei junge Leute aus der ganzen Welt.

Die Tage waren sonnig und freundlich. Wir konnten weite Wanderungen in die Umgebung machen.

Aber eines Morgens regnete es. Der Himmel hing tief und war dunkel.

„Nehmen wir den Bus!“ schlug mein Mann vor.

Ich aber sah nicht ein, warum ich nicht wie sonst zu Fuß zur Hochschule gehen sollte. Ich hatte das Bedürfnis nach frischer Luft.

Ich nahm unseren Schirm und ging los. Ich verließ die Reihe der Wohnhäuschen, in der wir unser Quartier hatten, und folgte der Promenade. Am Meer erfuhr ich die ganze Wucht englischen Wetters.

Der Regen war dichter geworden, so dass ich kaum atmen konnte, und der stürmische Wind fuhr unter meinen Schirm. Ich wurde schnell nass.

Ich trug einen dunkelblauen Wettermantel aus einem Secondhandladen daheim in Berlin, den ich mitgebracht hatte, weil ich schon einmal in England gewesen war, und dieses schlichte und vorzügliche Kleidungsstück hielt mich warm. Aber es triefte vor Nässe, und auch mein Kopf war nass.

Ich ging weiter und weiter. Ich konnte nicht noch nasser werden, also wozu aufgeben?

Der Regen spülte über die Promenade. Die Luft roch nach Salz. Ich war allein, so weit ich schauen konnte. Es war ein unvergesslicher Morgenspaziergang.

Sobald ich die Hochschule erreicht hatte, ging ich in einen der Toilettenräume und trocknete mich ein bisschen ab. Unter dem Mantel war mein grünes Wollkleid, das nicht nass geworden war. und meine Steckfrisur hatte gehalten.

Das Gesicht darunter hatte ich noch nie so hübsch gesehen- mit blitzenden Augen und geröteten Wangen.

„You are very beautiful!“ begrüßte mich ein chinesischer Kommilitone zurück bei den Anderen.

Von da an war es ein gewöhnlicher Tag.

 

4.

 

Der lange Sommer 2018 ist vorbei. Jetzt ist es dunkel und kalt und später November. Ich werfe einen Blick auf die Ernte meiner Arbeit.

Denn ich habe mich durch die Hitze nicht aufhalten lassen. Ich habe weiter an meinem Roman geschrieben und konnte noch ein paar andere Geschichten erfinden.

Jeden Morgen gingen wir hinaus und wanderten in der noch milden Luft durch die Stadt. Besorgt betrachteten wir die Bäume, die unter der anhaltenden Trockenheit litten, und die Kastanien vor unserem Haus hatten dazu noch einen Schädlingsbefall.

Zuhause schloss ich die Fenster. Ich trank ein bisschen Wasser, dann putzte ich. Ich habe das jeden Tag gemacht. Und trank dabei immer wieder von dem guten Berliner Wasser.

Schweißüberströmt saß ich schließlich am Schreibtisch. Die Einfälle kamen trotzdem- wie ein Sternschnuppenschwarm. Ich schrieb und schrieb.

Und das Abendessen! Was gab es da für Tomaten! Da hatte die Sonne uns ein Geschenk gemacht!

Ich hatte befürchtet, ich würde schlecht schlafen. Aber wenn ich mich unbehaglich fühlte, trank ich eine Tasse Pfefferminztee. Wieder Schweiß, viel Schweiß. Aber danach tiefe Ruhe.

Es war ein gottgesegneter Sommer für mich.

 

5.

 

Gott wäre auch zu danken für einen lange vergangenen Frühling, in dem ich meine große Liebe kennenlernte.

Wir waren so oft wie möglich zusammen und lieb miteinander. Wir waren selig.

Die Sonne schien warm in diesem März. Wir konnten lange Spaziergänge machen, und schließlich rasteten wir einmal auf unseren Jacken im Wald und genossen das Licht und die Wärme. Es wuchsen schon Blumen, und der Tag blieb traumhaft schön bis zum Abend.

Das war das Wetter der Liebe.