Von Sabine Esser

Die Luft wird immer dünner. So hat der uralte Mann große Probleme, die steile und schier endlose Treppe zum Chefbüro zu erklimmen. Seine Knie schmerzen ihn sehr. Vom vielen Sitzen ist er etwas steif geworden, und die prachtvolle Kleidung wiegt schwer. Einen Fahrstuhl gibt es nicht. Noch nie hatte er dort vorsprechen müssen oder wollen. Mühsam steigt er Stufe für Stufe hinauf und keucht dabei vernehmlich. Viele, viele Pausen braucht er, um Luft zu schöpfen. Das ständige Schimpfen strengt ihn zusätzlich an.

 

„Dass ich in meinem Alter überhaupt noch arbeiten muss, ist ein Unding.“ Bei jeder Stufe hüstelt er: „Ein Unding, diese Idioten. Ein Unding ist das. Einfach ein Unding!“ Dieses Mantra treibt ihn vorwärts. Schritt für Schritt für Schritt für Schritt.

 

Oben angekommen, stöhnt er: „Chef sprechen“ und sackt zusammen. Der Sicherheitsdienst alarmiert sofort und gemäß Dienstplan die zuständigen Rettungskräfte. Mit etwas zugewedeltem Sauerstoff beleben sie ihn. Viel davon dürfen auch sie nicht verbrauchen.

 

Nur sehr langsam berappelt er sich. Hat er es wirklich geschafft, bis ganz nach oben zu kommen? Immer noch hat er Schleim im Rachen, würgt und spuckt ihn verstohlen in sein Gewand. Die Dauerberieselung mit esoterischer Harfenmusik stört ihn sehr. Harmonie ist nicht sein Anliegen heute.

 

„Das ist aber nett von dir, dich hierher zu bemühen. Das hat dich sicherlich viel Kraft und Überwindung gekostet“, hört er die Stimme seines Vorgesetzten. Sie erinnert ihn an den sanften Klang einer Oboe. Der Alte blinzelt und versucht, sein Gegenüber zu erkennen. Sein optisches Vermögen aber ist extrem eingeschränkt. Er sieht nur verschwommenes Hell und Dunkel.

„Du musst mir nichts erklären. Etwas impulsiv warst du ja immer.“

 

Genau dieses Verständnis für alles und jeden hat ihn immer abgehalten, sich mit dem Chef anzulegen. Und – ehrlicherweise – hat der ihm auch nie reingeredet. Eigentlich konnte er immer machen, was er wollte. Aber trotzdem, so geht das nicht!

 

Der Alte hat wieder Luft.

„Genau genommen, sehen Sie mich heute zum ersten Mal. Das sollten Sie doch am besten wissen!“

„Das weiß ich sehr wohl. Hast du je meine Hilfe benötigt oder mich auch nur gefragt? Was willst du also?“

Die cheföse Stimme ist ganz nah. Die angedeutete Drohung eines Fagotts nimmt er nicht wahr.

So ereifert sich der Alte mit schriller Greisenstimme: „Glauben Sie ja nicht, ich hätte mir das hier angetan, wenn es nicht nötig wäre! Ungeregelte Zuständigkeiten und Überforderung! Nichts, absolut nichts ist zwischen uns geregelt!“

„Das aber ist doch genau so von dir und deinesgleichen gewollt“, antwortet ein tiefer Celloton mit langem Nachhall und setzt neu an:

„Warum sollten Wir etwas vertraglich regeln? Wir denken doch in größeren Dimensionen, nicht wahr? Du bist seit wann erst dabei?“

 

Es kann nicht wahr sein, der Chef kennt die Personalakten nicht! Der Alte bläht sich auf:

„Seit Ewigkeiten. Aber meine Grenzen sind jetzt erreicht! Haben Sie überhaupt eine Ahnung von dem, was heutzutage los ist? Doppelbelastung zum Beispiel und vor allem unqualifizierte Einmischung Unbefugter? Alles gerät aus dem Lot! Wozu sind Sie eigentlich Chef, wenn Sie nichts unternehmen?“

 

Es dauert sehr lange, bis die Stimme sich auf diese Insubordination einlässt. Endlich erklingt ein quälend langer Saitenstrich:

„Was die nicht geregelten Zuständigkeiten anbelangt, gebe ich dir Recht. Aber du wirst mir zustimmen, dass du nicht protestiert hast, als sie erweitert wurden und ich das stillschweigend hingenommen habe. Ich unterstelle dir nicht einmal Ehrgeiz, aber Eitelkeit. Deine Zuständigkeit ist in der Tat nur die eines simplen Türstehers. Alles Weitere habe nicht ich zu verantworten. Also beklag dich nicht.“

 

Das Geräusch ist kaum zu ertragen. So einfach aber gibt der Alte nicht auf. „Sie selbst haben alles zugelassen! Über Jahrtausende! Sie hätten …“

Sein Redefluss wird jäh unterbrochen. Er glaubt, direkt neben einer großen Glocke zu stehen, so sehr dröhnt jetzt die Stimme: „Recht hast du! Ich habe alles zugelassen und werde es auch weiterhin. Meinst du wirklich, dass du, angesichts der Ewigkeit irgendeine Relevanz hast? Irgendein Recht? Du bist doch nur einer von Vielen, die kommen und gehen. Jetzt merkst du, dass du und deinesgleichen nicht weiterkommen und rufst nach meiner Hilfe. Deine Probleme werde ich ebensowenig lösen wie die anderer. Lass dich nur weiterhin als Wettergott anrufen und auch sonst fälschlich feiern!“

 

Dagegen ist kein Ankommen. Der Alte schüttelt den Kopf, um das Taubheitsgefühl aus den Ohren zu bekommen. „Das sind doch nicht nur meine Probleme. Ihr ganzes Werk ist bedroht“, flüstert er schließlich.

 

Nichts. Absolut nichts.

 

Aus weiter Ferne hört er endlich einen sich verflüchtigenden Bratschenstrich: „Wen interessiert das schon.“ Und „Hybris.“

 

„Dann kündige ich eben!“, brüllt Sankt Peter in den echoleeren Raum.

 

Version 2