Von Ingo Pietsch

Der Gerichtssaal war überfüllt. Es gab fast mehr Sicherheitskräfte, als Zivilisten anwesend waren.

Es war ein Jahrhundertprozess. Eigentlich unter Ausschluss der Öffentlich angepriesen, kauften sich die Medien in das unvermeidliche Spektakel ein.

Angeklagt war Raymond Freeway, auch bekannt als Red River Killer.

Zum Zeitpunkt des Prozesses hatte man auf dessen Anwesen die Leichen und Körperteile von mindestens 100 junger Mädchen und Frauen freigelegt. Teilweise verscharrt, manche auch richtig bestattet.

Es musste immer wieder vertagt werden, weil täglich neue Opfer dazukamen.

Der Gerichtssaal war emotional so negativ aufgeladen, dass kaum jemand einen klaren Kopf fassen konnte.

Die Gerichtsdiener fürchteten, dass jeden Moment jemand eine versteckte Waffe ziehen würde, und den vermeintlichen Mörder aus Selbstjustiz niederzustrecken.

Und demjenigen würde es niemand verübeln.

Bisher hatte Raymond kein Geständnis abgelegt. Hatte alles mit neutraler Mine über sich ergehen lassen. Er trug eine kugelsichere Weste und war in einem Käfig aus Panzerglas eingesperrt. Er wirkte wie der freundliche Nachbar von nebenan, der keiner Fliege auch nur ein Haar krümmen könnte. Deshalb war er auch so unberechenbar.

Die Beweismittel waren nur dem Gericht, den Rechtsanwälten und den Geschworenen zugänglich gewesen. Regelmäßig hatte der Richter unterbrechen müssen, weil sich einer Geschworenen hatte übergeben müssen.

Alles sprach gegen den Red River Killer. Einmal quer durch die USA war er gezogen und hatte seine Opfer in seiner Heimatstadt am nahe gelegenen Fluss ausbluten lassen, daher sein Spitzname.

In seiner Heimatstadt war man ebenfalls geschockt. Seit bekannt werden des Ausmaßes des Ganzen traute sich kaum noch jemand auf die Straßen. Die Flaggen wehten auf Halbmast und es hatte sogar eine bundesweite Schweigeminute gegeben.

Niemand kannte den Einsiedler genau. Er war zwar hier aufgewachsen, hatte sich aber nach dem Tod seiner Eltern auf die im tiefen Wald gelegenen Farm zurückgezogen und dort quasi verbarrikadiert.

Ein Metallzaun, verhüllt in undurchsichtige Plastikplanen, zog sich einmal um das ganze Grundstück.

Man hielt ihn für einen UFO-Spinner und religiösen Fanatiker. Aber er war stets zu allen im Ort freundlich gewesen und hatte nie auch nur ein Parkticket bekommen.

Also fragten sich alle, worin seine Motivation bestanden hatte.

Raymond schwieg weiter.

Auch, als er während der Verhandlung beschimpft und bespuckt wurde. Mehrfach musste der Gerichtssaal komplett geräumt werden.

Aber es waren so viele Menschen zugegen, dass es an neuen Zuschauern nicht mangelte. Anscheinend waren die Angehörigen der Fahndungsliste für vermisste Frauen der letzten zehn Jahre angereist, um Gewissheit zu erlangen, dass ihre Liebsten tot seien und sie ihren Frieden finden konnten und der Mörder seiner rechtmäßigen Bestimmung zugeführt werden konnte.

Der Richter schlug mit seinem Hammer zur Ruhe. Es war ein erfahrener, gerechter Richter. Und er hatte einige schwierige Fälle hinter sich. Doch diesmal hatte er Schwierigkeiten, die Fassung zu wahren.

„Aufgrund der immer noch anhaltenden Beweisfindung wird das Geschworenengericht in diesem Fall eine Ausnahme machen und ein Urteil sprechen. Haben Sie, Raymond Freeway, noch irgendwelche Worte an die Angehörigen der Opfer zu richten oder irgendeine andere Anteilnahme oder Aussage zu ihren Taten?“

Raymond blickte ins Publikum. Dort saß ein gepflegter Herr mittleren Alters mit Schnur- und Spitzbart und lächelte ihn an.

Dann wandte sich Raymon an den Richter und sang geistesabwesend: „La, le, lu, nur der Mann im Mond schaut zu …“

Unruhe kam auf und der Richter schlug mehrmals mit dem Hammer auf den Tisch. „Die Geschorenen werden sich jetzt zur Urteilsfindung zurückziehen. Danach versammeln wir uns zur Verlesung wieder hier.“

 

10 Jahre zuvor

Raymond Freeway hockte auf seinem Pickup neben Debbie Wilson, seiner großen High-School Liebe. Sie war seine Begleiterin auf dem Abschlussball gewesen. Oder hätte es sein sollen, denn sie hatte ausdrücklich Nein zu ihm gesagt und sich mit Händen und Füßen gegen ihn gewährt. Erst mit Hilfe eines Backsteines war es Raymond gelungen, sie unter seine Kontrolle zu bringen.

Jetzt lag sie steif neben ihm; die blonden Haare rot verfärbt, ihre Haut bleich.

Es war ein wunderschöner Sonnenuntergang, trotzdem Raymond jammerte die ganze Zeit: „Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht.“

Ein Sheriff trat an die Ladefläche des Pickup und klopfte einmal dagegen. „Na, mein Junge, was ist denn hier los?“, fragte er, obwohl er genau wusste, was geschehen war.

Raymond blickte auf und erkannte einen freundlich lächelnden Mann mittleren Alters mit Schnur- und Spitzbart.

„Es ist nicht das, wonach es aussieht. Ich wollte das nicht!“, stammelte Raymond.

Der Sheriff hatte seinen Hut abgenommen: „Das weiß ich doch. Ich werde dich auch nicht verpfeifen. Im Gegenteil. Pass auf, ich werde dich finanziell unterstützen und du machst einfach weiter, ohne dich erwischen zu lassen. Und wenn du es schaffst, nach, sagen wir zwanzigmal nicht erwischt zu werden, garantiere ich dir, dass du nicht mit dem Tode bestraft wirst. Sozusagen eine kleine Wette unter uns. Haben wir einen Deal?“ Er hielt Raymond die Hand hin.

Der sah ihn ungläubig an und schlug ein.

„Dann sieh zu, dass du deine kleine Freundin verschwinden lässt“, fügte der Ältere in nicht mehr so freundlichem Ton hinzu.

Raymond sah auf die Leiche, dann wieder zum Sheriff, doch dieser war wie vom Erdboden verschluckt.

 

Der Richter besah sich das Urteil der Geschworenen. Dann verlas er es.

„Kein Gericht dieser Erde kann ein gerechtes Urteil über diesen Menschen sprechen. Seine Taten sind unverzeihlich und ich hoffe, dass, wo immer er nach seinem Tode hingehen wird, er dort die Strafe erhält, die ihm zusteht. Die Geschworenen haben die Todesstrafe beantragt.“

Eine Welle der Erleichterung ging durch den Saal. Raymonds Tod würde die Opfer nicht wieder lebendig machen, aber den Angehörigen Genugtuung geben.

„Leider gibt noch etwas hinzuzufügen. Der Gouverneur dieses Staates hat sein Veto eingelegt und die Todesstrafe in eine lebenslange Haft in einer geschlossenen Anstalt umgewandelt. Damit ist Verhandlung beendet.“ Der Richter schlug mit dem Hammer und wollte schnellstens den Saal verlassen, weil er ahnte, was gleich geschehen würde. Und es kam noch viel schlimmer: Raymond war aufgestanden und sagte laut und deutlich: „Vielleicht wissen Sie es noch nicht, aber ich habe noch ein Grundstück, auf der anderen Seite der Stadt. Da sollten Sie auch mal nachsehen.“

 

Daisy Tempest wusste nicht mehr genau, wie sie dem Gerichtssaal lebendig entkommen war. Man hatte Raymond Freeway mit mehreren S.W.A.T. Einheiten irgendwie da rausgeholt und sie als seine Verteidigerin gleich mit in Sicherheit gebracht.

Daisy schämte sich. Wie hatte sie nur diesen Fall annehmen können?

Vor ihrem Haus parkten zwei Streifenwagen.

Die weißen Wände waren mit Gemüseresten beschmiert, die irgendwelche Leute dagegen geworfen hatten.

Sie schloss die Tür auf und schlug sie hinter sich wieder zu und rutschte mit dem Rücken an der Flurwand herunter. Sie saß dort eine ganze Weile im Dunkeln, bis sie die vertraute Stimme ihres Mannes aus dem Wohnzimmer hörte.

„Schatz, kommst du bitte mal her?“

Sie kämpfte sich mühsam hoch und verwischte ihr Makeup mit den Tränenbächen auf ihren Wangen.

Ihr Mann kam in den Flur und fasste sie fest an den Schultern. „Dein Boss wartet im Wohnzimmer auf dich. Unsere Tochter ist bei deinen Eltern. Sag dem Typen, dass du kündigst. Wir haben Angst!“ Mit den Worten ging er nach oben ins Schlafzimmer.

Daisy ging langsam ins Wohnzimmer, das von einem Kamin angenehm beheizt wurde.

Unheimliche Schatten tanzten von den Flammen auf dem Gesicht ihres Chefs. Einem älteren Herrn mit Schnur- und Spitzbart.

„Setzen Sie sich.“ Lud er sie ein.

Zögernd nahm sie Platz.

„Ich möchte Ihnen zu ihrem ersten erfolgreichen Fall von vielen gratulieren. Sie sind eine wirkliche Bereicherung für unsere Kanzlei.“

„Ich kann das nicht. Ich werde kündigen.“ Daisys Stimme zitterte.

„Das geht leider nicht. Wir hatten eine Wette. Wenn Freeway nicht zum Tode verurteilt wird, dann bekommen Sie eine lebenslange Anstellung bei uns. Voila!“

„Ich bin ganz frisch von der Uni gekommen, ich hatte keine andere Wahl. Ich hätte diesen Fall niemals gewinnen können. Irgendetwas stimmt hier nicht.“

Ihr Boss faltete die Hände: „Misses Tempest. Wir haben einen Deal. Ich habe ihre Unterschrift unter einem Vertrag und Sie die meine. Wir wollen doch nicht, dass einer von uns beiden vertragsbrüchig wird. Ich denke nicht, dass Sie sich die Konsequenzen auch nur im Entferntesten ausmalen können. Ich liebe es, Menschen leiden zu sehen und ich ergötze mich daran, wenn sie nichts dagegen tun können. Wissen Sie, ich wandle schon länger unter den Menschen und ich weiß, wie ich das bekomme, was ich gerne haben möchte.“ Er stand auf. „Wir sehen uns dann am Montag im Büro. Ich habe da schon einen ähnlichen Fall für Sie. Und sollten Sie nicht erscheinen, werden Sie es bitter bereuen, dessen können Sie sicher sein. Guten Abend!“

Sie fror trotz des Kaminfeuers und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen!