Von Tanja Muhs

„Deal?“, fragt Kevin. Er hat die Musik heruntergedreht, um meine Antwort zu hören. Ich nicke.

Wir sind wie Brüder. Waffenbrüder.

„Dann geh los und mach!“

Ich nehme meine Jacke, die über der Sessellehne hängt, und trotte in Richtung Tür. Ich bin wohl zu langsam, denn er blafft von der Couch „Was ist denn noch? Willst du nicht oder was?“

Ich zucke mit den Achseln. „Doch, doch. Es ist nur kalt draußen.“

„Ich setze auf dich, das weißt du.“ Ich nicke wieder.

Als ich mir den Kragen hochschlage, vibriert der Glastisch schon wieder mit der Musik.

 

Zu betrunken strudele die Treppe im Hausflur hinunter wie ein kenterndes Schiff, unten angekommen ist mir schwindelig. Kev setzt auf mich. Ich bin zu dem Pferd geworden, auf das er setzen kann, ein Holzpferd auf dem Karussell, benommen von der ständigen Bewegung im Kreis und Kev, der Betreiber, der immer wieder durchs Mikrofon ruft „Wollt ihr noch eine Runde?“

 

Auf dem nassen Gehsteig schwimme ich bereits nach wenigen Schritten in meinen Schuhen. Das Auto kann ich nicht nehmen, so betrunken wie ich bin. Diese Botengänge mache ich immer zu Fuß. Und immer betrunken. Obwohl sie mir meine Geldbörse prall füllen. Mein Freitagabend, während sich das Partyvolk zu einem amüsanten Abend aufmacht. Das Parfum der herausgeputzten Mädels, ihre aufgeregten Stimmen, ihre männlichen Begleitungen reichen ihnen den beschirmten Arm. Mir regnet es in den Nacken. Ich ziehe meinen Kragen enger und trabe weiter.

 

An die Wohnungstür klopfe ich, drei Mal, kurz und kräftig. In den Häusern dieser Gegend klingelt man nicht. Die Tür öffnet sich, einen Schlitz breit nur. Ein kleines Mädchen. Verdammter Mist, denke ich. Ich setze an zu sagen „Ist dein Papa da, Liebes?“, da schwingt sie ganz auf, die Tür. Eine Frau erscheint im Türrahmen, ihre Augen solche Schlitze wie eben noch die Tür. Dann weiten sie sich, ich erkenne ihr Haselnuss.

 

„Mark?“ fragt sie nach langer Pause. Mehr sagt sie nicht.

 

Sie sind noch immer so haselnussfarben, wie sie mal waren, Evas Augen.

 

„Mama, wer ist der Mann?“

 

Als sie ihre Worte wiedergefunden hat, spricht sie aus, was ich denke.

„Was machst du denn hier?“

 

Ich möchte die Treppe hinunterstolpern, mir das Genick brechen dabei, in Evas Armen sterben. Stattdessen räuspere ich mich und sage, würde meine Stimme nicht brechen, nahezu business-like: „Ich suche Andreas. Deinen….Mann,…vermute ich.“

 

Weiß sie es?, denke ich.

 

„Der ist nicht da.“ Ihre Augen werden wieder enger. „Ich wusste gar nicht, dass ihr euch kennt.“

Nein, sie weiß es nicht.

„Woher kennt ihr euch?“

 

Ich weiß nichts zu antworten. Wenn ich nicht so verdammt dicht wäre, würde mir vielleicht etwas Sinnvolles einfallen, was ich sagen könnte. „Schön, dich zu sehen! Wie geht es dir?“ oder „Oh, was für ein toller Zufall, dass wir uns treffen! Sag, wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen?“ sind vor Türen wie dieser überflüssig.

 

„Wann kommt er denn zurück?“, frage ich also stattdessen. Ich muss mich an die Wand stützen, sonst falle ich um.

 

„Das kann ich dir nicht sagen.“ Nach einer kurzen Pause hört sie auf, in meinem Gesicht nach dem zu suchen, den sie mal kannte und senkt den Blick. Ihre Stimme ist sehr leise, als sie sagt: „Er kommt und geht wie es ihm gefällt.“

 

Lange stehen wir schweigend einander gegenüber. Ich möchte nicht gehen, möchte aber auch nicht bleiben. Dass aus den Kordeln meiner Jacke Regen tropft, merke ich erst, als das Kind sagt: „Du bist ja nass wie ein begossener Pudel.“

„Ja, da hast du wohl recht.“ Mir gelingt ein Lächeln. Das Kind hat dieselben Augen wie seine Mutter.

„Du musst dir was anderes anziehen, sonst holst du dir eine Erkältung!“, klärt das Kind mich auf. „Mama, ich glaube, der Mann möchte einen Kakao!“

„Mina, ich glaube, der Mann hat heute schon genug getrunken“, antwortet Eva und ihr Blick ist vorwurfsvoll. Verdammt, denke ich, verdammter Sprit.

 

Eva sieht mich lange an. Ich sollte gehen. Schließlich tritt sie beiseite. Warum, das weiß der Himmel. „Komm rein…auf nen Kaffee.“

 

Ich fühle mich deplaziert auf der Decke, die sie schnell über ihre Couch geworfen hat,  ihrer Couch, seiner, in meiner Hand einen Becher Kaffee. Der Fernseher läuft, ein Cartoon, ohne Ton, Mina davor auf einem Kissen.

„Wie alt ist sie?“ frage ich, um etwas zu sagen.

 

„7“, sagt sie.

 

Warum kann sie nicht mehrsilbiger sein?

 

„Also kurz nachdem…?“

 

Sie nickt.

 

„Andreas ist…?“

 

„Andreas ist schwierig“, sagt sie. „Es ist schwierig.“ Sie schaut mich an und fügt hinzu „Aber wem sage ich das?“

Ich frage mich, was sie sieht, traue mich aber nicht, sie das zu fragen. Stattdessen starren wir schweigend auf den Cartoon, als wäre er die Antwort auf alle unsere unausgesprochenen Fragen.

 

Schließlich – Tom jagt gerade zum tausendsten Male Jerry in ein Mauseloch, gegen die Wand krachend schweben Sternchen über seinem Katerkopf – sagt sie: „Andreas ist in Schwierigkeiten, oder?“

 

Ich antworte nicht. Sie tastet mit ihren feinen Fingern über meine Hand, an meinen Knöcheln bleibt sie hängen.

 

„Deswegen bist du hier, oder? Weil er wieder Stress gemacht hat?“

 

Ich schaue in ihre haselnussbraunen Augen, diese Augen, die ich so gut kenne. Mit zu klobigen Händen fahre ich die Konturen ihrer Lippe entlang. Ich überlege, ob ich sie küssen kann, ob sie es mir erlaubt, so wie damals, denke an das Kind vor dem Fernseher, tue es nicht.

 

Abrupt steht Eva von der Couch auf. „Mina, unser Gast möchte gehen. Sag ihm auf Wiedersehen!“ Brav gibt mir das Mädchen die Hand, trollt sich dann wieder schnell vor den Flimmerkasten.

 

Eva bringt mich zur Tür. Sie hat die Hand schon an der Klinke, lässt sie wieder los, schaut mich an. „Wieviel ist es?“ Ihre Stimme ist brüchig. Bevor ich antworten kann, hat sie ihre Arme um mich geworfen und schluchzt, schluchzt hemmungslos zwischen den Küssen, die sie mir auf den Mund drückt.

 

„Schau uns an, Mark, schau uns an! Was ist aus uns geworden? Hätten wir eine Alternative gehabt? Ich hätte gewettet, dass du es schaffst. Wenn es einer schafft, dann du!“ Mit diesen Worten schiebt sie mich hinaus in den Hausflur. „Klick“ macht die Tür im Schloss, durch das dünne Holz höre ich sie weiterschluchzen.

 

Zum zweite Mal an diesem Abend strudele ich die Treppe im Hausflur hinunter wie ein kenterndes Schiff, unten angekommen ist mir schwindelig, obwohl ich nicht mehr betrunken bin. Alles dreht sich, alles dreht sich im Kreis, immer und immer wieder. Kev setzt auf mich, er setzt auf mich und meine Hände sind leer. Hierhin kann ich nicht zurück. Dorthin auch nicht.

 

Ich nehme mir ein Taxi zum Bahnhof. Aus dem Schließfach hole ich den Rucksack, den ich dort deponiert habe. Ich schiebe ein Bündel Scheine in den Umschlag, den ich gerade im Bahnhofsbuchladen gekauft habe. Einen Zettel lege ich bei. „Kev, hier die 8.700 Euro, die ich heute für dich eingeholt habe. Dies war meine letzte Runde.“