Von Daniel Büttrich

Verloren. 200 Euro. Verloren. Wegen eines völlig unnötigen Rückpasses in der Nachspielzeit.Und wegen eines gedopten Pferds.

 

„Es wird eng mit dem Unterhalt in diesem Monat!“, dachte er. „Geld leihen? Ante hat zugemacht. Weniger Zigaretten? Vielleicht ein Gelegenheitsjob? Ach was! Alles halb so schlimm! Im nächsten Monat wird es besser!“

 

Er ging vor die Tür und zog am Glimmstängel. Die Männer neben ihm unterhielten sich über Wetteinsätze für ein unterklassiges Spiel. Er lauschte interessiert. Natürlich hatte er bereits einen Plan für weitere Wetten. Er war ein vorausschauender Mensch. Er wusste genau, was er tat. Er hielt nichts von Menschen, die in den Tag hineinlebten und sich nur auf ihr Glück und den Zufall verließen. Alles war ein großes Spiel. Oben sind die Typen an der Börse und die Bosse der großen Handelsfirmen, die mit ihren Warenströmen ihren Geldbeutel immer voller machen. In den Internet-Konzernen sitzen die Strategen mit ihren Algorithmen und produzieren einen erdballgleichen Ballon von globaler Werbung, mit der sie die ganze Welt verhüllen wie in den Neunzigern dieser Christo den Reichstag. Der Müll an Daten wächst ähnlich verheerend wie der Müll in den Meeren und im Weltraum. Aber egal. Das ging ihn eigentlich nichts an. Er war derjenige, der den Müll aufsammelte, den auf der Straße. Und weil das zu wenig Geld einbrachte, musste er wetten. Die Welt war ungerecht, doch was würde es bringen, ein selbstgerechter Michael Kohlhaas zu sein? Nichts, nur noch mehr Leid und verlorene Seelen. Also blieb nur, das Beste daraus zu machen und halbwegs moralisch zu bleiben. Er hatte Ante wieder einmal seine Weltsicht offenbart. Ante hatte wie immer gesagt: „Liebe Kroatien mit vollem Herzen und Du bist glücklich! Näää, ist so!“

 

Es begann stark zu regnen. Er schnippte den Stummel weg, warf die Kapuze über und ging los. Ab ins dunkle Berlin, sich treiben lassen, die stickige Luft des Wettbüros und den Teer aus der Lunge herausatmen!

 

Ging in einen Waschsalon, um sich aufzuwärmen. Ging hinaus, um sich abzukühlen. Aß Döner. Dachte an die verlorene Wette. Egal, es war Wochenende, morgen war italienische Liga. Er sah in das Fenster eines Billardsalons. Da warf einer Pfeile, der exakt aussah wie der Schotte, den er gestern im TV gesehen hatte. Ja klar, an diesem Wochenende war doch das große Darts-Turnier in Berlin! Er ging hinein, bestellte sich ein Bier und nahm am Tisch neben dem Dartspieler Platz. Weltklasse, was der warf!

 

„Are you Sean Cormack?“

 

„Ja. Hello, my friend! What’s your name?“

 

„Maurizio.“

 

Maurizio fragte, ob es sich lohne auf Cormack´s Turniersieg zu setzen. 

 

„Yeah. I am in a good condition“, antwortete Cormack.

Dann nahm Maurizio einen großen Schluck Bier, und erzählte Cormack in einer Mischung aus Deutsch und Englisch von seinem aktuellen Geldproblem. Cormack hörte interessiert zu.

 

„Ich bin auch in zweiter Ehe verheiratet und habe neben meiner Tochter einen Sohn aus erster Ehe. Ich weiß, wovon Du sprichst.“ Er warf zwei 180er hintereinander. „Komm.“ Cormack packte Maurizio am Arm und führte ihn in eine Ecke hinter den Dartautomaten.

 

„Hier, 1000 Euro. Ist sicherer, als wenn Du auf mich wettest. Ich habe es in letzter Zeit öfter mit der Bandscheibe. Das Geld habe ich gewonnen, weil ich absichtlich verloren habe. Mein schlechtes Gewissen belastet mich. Ich habe gesündigt. Du würdest mir sehr helfen.“ Maurizio sträubte sich zunächst, nahm aber schließlich das Geld an. Er gab dem Dartweltmeister von 2017 ein Bier aus und verabschiedete sich überschwänglich. „Be quiet!“, sagte Cormack. „Sonst steht gleich der ganze Laden auf der Matte. Und mach‘ was draus! Dein Sohn wird sich freuen!“

 

Es regnete wie aus Gießkannen. Maurizio beschleunigte seinen Gang, bog in ihm bekannte Straßen ein und stieß irgendwann die Tür zu einer Kneipe auf. In der dem Volksmund nach verruchtesten Rockkneipe Berlins wollte er seinen Abend ausklingen lassen. Die Kneipe war warm, voll und roch angenehm nach altem Holz. Die Jukebox spielte Hard-Rock aus den 80ern. Er bestellte ein Pils und setzte sich an den Ecktisch neben der Jukebox. Neben ihm junge Frauen und Männer, knutschend und schmusend.

 

„Jugend, lange her!“, dachte er und widmete sich seinem Bier. Nachdem er eine Weile geistesabwesend ins Nichts geblickt hatte, fiel ihm auf, dass ihn die vor ihm sitzende Frau anstarrte.

 

„Gealterte Hinterhofschönheit! Die muss schon ganz schön was erlebt haben!“, dachte er.

 

„Du siehst süß aus, wenn Du so verträumt in die Ferne schweifst!“, hauchte die herbe Schönheit.

 

„Bitte?“

 

„Süß!“

 

„Sehr laut hier!“, beklagte sich Maurizio.

 

„Gibst Du mir ein Bier aus?“, fragte sie und blinzelte.

 

„Klar!“

 

Er bestellte sich gleich eines mit.

 

„Ich bin Maurizio. Ich habe eine Frau. Sind getrennt.“

 

„Oh, wie schade für Dich!“, sagte sie lachend und sprach weiter: „Ich komme zu Dir auf die Bank. Auf dem Stuhl fühle ich mich einsam. Weißt Du, ich wohne gleich neben dran. Ich bin oft hier. Ich habe Dich auch schon ein paar Mal gesehen. Maurizio ist ein schöner Name.“ Sie strich ihm über die Haare. „Gefällst mir, Kleiner. Ich gehe samstags immer auf Technopartys. Gehen wir zusammen?“, lallte sie. Sie hatte wirklich einen sitzen!

 

„Ja, warum nicht? Ich war schon lange nicht mehr auf Technopartys.“

 

Sie tauschten sich über die Berliner Disco- und Clubszene aus. Als Maurizio Sportergebnisse auf seinem Smartphone checkte, meinte sie: „Das Spielzeug des kleinen Mannes!“

 

„Wie heißt’n Du eigentlich?“

 

„Nana.“

 

„Nana? So wie Nana Mouskouri?“

 

„Genau wie die! Guten Morgen Sonnenschein! Haha!“

 

Sie hing inzwischen magnetisch an ihm. Wenn sie ihm abwechselnd ins Ohr flüsterte und brüllte, berührte sie ihn mitunter mit Lippen oder Zähnen. Er spürte ihre straffen Brüste an seinem Oberkörper. Er mochte es, und gleichzeitig nervte es ihn. Im Ergebnis gefiel es ihm.

 

„LamichDeineMILFsein!!“

 

„Was?!?“

 

„Lass mich Deine MILF sein!“

 

Im nächsten Moment tauschten beide einen intensiven Zungenkuss aus. Dann bestellten sie noch ein Bier, das sie umgehend austranken, um sich danach ein weiteres zu bestellen und umgehend in einem mehrminütigen Zungenkuss zu versinken. „Du gefällst mir, Kleiner! Warte mal, ich geb‘ Dir einen Euro für die Jukebox. Spiel mir „Bela Lugosi is dead“ von Bauhaus!“ Nachdem die Jukebox Bela Lugosi nicht kannte, wurde es „You Spin Me Round“. Maurizio tänzelte vor Nana in dem steckvollen Lokal. Nana applaudierte ihm und stieß dabei ein Bierglas um. Mit seinem Kugelschreiber aus dem Wettbüro schrieb sie sich „N+M“ auf den Unterarm. „Wo hast die Narben her?“ „Denkmalgeschützt!“ „Du bist eine interessante Frau, Nana! Was….?!“ Maurizio stülpte sich seine Jacke über den Kopf und verschwand unter dem Tisch. Nana lachte und nannte ihn einen brillanten Komiker. Sie fragte, ob er ihr Hund sein wolle und reichte ihm mit den Worten „Hier ist Dein Hundenapf“ das Bierglas. Maurizio hielt den Finger vor den Mund. Warum musste der Dartweltmeister und edle Spender Sean Cormack ausgerechnet in diese Kneipe gehen? Cormack hatte jedoch die Kneipe sofort wieder verlassen, nachdem er erfuhr, dass es kein Guinness gibt. Maurizio zog sich an Nanas Beinen hoch und fuhr seine Zunge für einen Kuss aus. Weil der Holzboden nass war, rutschte er ab und schleckte Nanas komplettes Gesicht ab. „Wuff!“ Nach einem weiteren Bier machten sie sich auf zur Disko.

 

Er fühlte sich verjüngt, als er bei Nana eingehakt in die große Halle stolperte. Es war verdammt heiß hier! Wo war nur die Garderobe? Ein paar Minuten standen die beiden ineinander verkeilt in der Mitte der Tanzfläche, umringt von wilden, ekstatischen Tänzern. Dann löste sich Nana von Maurizio und steuerte auf eine junge, schlanke Frau zu. Die Frauen umarmten sich. Maurizio begann die Beine zu heben und sich im Kreis zu drehen, während er ausgelassen die Arme in die Luft schleuderte.

 

„Wat hast`n da für’n Hooligan aufjegabelt?! Hihi, dit is ja ne olle Type!“

 

„Maurizio, König der Lüfte!“, sprach er Grimassen schneidend.

 

„Ick bin die Nina, Freundin von der Nana. Magst ‘n Schluck?“

 

„Immer doch!“, prahlte Maurizio, der an diesem Abend kein Ende mehr fand.

 

„He, lass wat übrig!“

 

Maurizio sah sich nach dem kräftigenden Schluck in eine neue Dimension springen. Er hüpfte auf und ab, und passte seine Bewegungen allmählich besser dem Rhythmus an. Nach ein paar Minuten steuerte er auf Nana zu und umarmte sie zärtlich.

 

Als er aufwachte, zwitscherten die Vögel. Er war im Park. Er kannte den Park. Es war der Park neben den Wohnblocks, in denen Jana und Simon lebten, seine Frau und sein Sohn. Ein Jogger kam vorbei und sagte „Guten Morgen“. Eine Frau schob ihren Kinderwagen rasch vorbei und blickte streng geradeaus. Er fror extrem. Überrascht stellte er fest, dass er lediglich in Unterhemd und Unterhose gekleidet war. Irgendetwas klebte an seiner Brust. Er griff unter das Unterhemd und fischte zwei 100-Euro-Scheine und zwei Post-its hervor. „Für den Unterhalt reicht’s“, dachte er sich. Auf dem einen Zettel stand: „Du warst eine Granate. :-).“ Auf dem anderen: „Du wolltest unbedingt den teuersten Champagner und in Unterwäsche mit dem Taxi fahren. :-)“

 

Zwei Gestalten näherten sich ihm. Es waren Simon und Jana. Simon lief vorneweg. Er war jetzt 9 Jahre alt. Ein guter Junge. Und dann stand er vor ihm.

 

„Alter, wie schaust Du denn aus?“

 

„Sag doch wenigstens Papa zu mir!“

 

„Mann, hast Du eine Fahne! Machst Du einen auf Charlie Sheen?“

 

„Erzähl‘ das niemandem!“

 

„Mama hat Mitleid mit Dir. Ist doch gut!“

 

„Was ist gut?“

 

„Dass sie Mitleid mit Dir hat. Sonst ist sie meistens wütend auf Dich!“

 

Maurizio sah in den idyllischen Park. Die ersten Sonnenstrahlen kündigten einen neuen Tag an. Bald würden Eltern mit ihren Kindern kommen und eine glückliche Zeit auf dem Spielplatz verbringen. Vor gar nicht so langer Zeit war er oft mit Simon hier gewesen.

 

„Scheiß Wetten“, flüsterte Maurizio und legte seinen Arm um Simon.

 

„Papa! Wird wieder! Game on!“, sagte der.

 

Jana packte Jogginghose und Pullover aus der Tüte aus.

 

„Wette verloren, hmm…?“, fragte sie besorgt.

 

– 2. Version –