Von Kornelia Wulf                                             

03.06.2016 – 18 Uhr 08

 

Nie hätte ich gedacht, dass es so einfach geht, mir ein so tiefes Gefühl der Zufriedenheit verschafft…

 

Zwei Wochen zuvor

 

Ich saß in meinem neuen blauen Opel. Erworben nach der Kontentrennung. Gewissermaßen als Trost, nachdem ich Hans-Peter vor die Tür gesetzt hatte. Eben noch wölbte sich ein mild freundlicher Abendhimmel über die Dächer. Dann schlug das Wetter um. Ich hörte ein dumpfes Grollen durch die geschlossenen Seitenfenster. Granitgraue Wolken tobten über mir, spien Wassermassen und erbsengroße Hagelkörner gegen die Scheiben und ein tosender Wind wirbelte dürre Äste durch die Luft. Mit der mittlerweile zehnten oder elften Zigarette im Mundwinkel fuhr mein Kopf herum. Ein kläffendes Chihuahuabündel rutschte auf klammen Pfötchen an Herrchens Leine, knallte fast gegen meine Fahrertür. Nur wenige Tage zuvor hätte ich geschworen, meiner Sucht Frau geworden zu sein, doch nach diesem Ereignis lechzten meine Lungen nach Nikotin und Teer. Das Unwetter bewies Durchhaltevermögen. Es goss wie aus Kübeln. Ich ließ den Motor an, etwa alle fünf Minuten. Die Scheibenwischer jagten über das Glas, als würden sie von Galeerenpeitschen zur Höchstleistung angetrieben. Ich hatte den Opel in der Einmündung einer Seitenstraße geparkt. Im Schatten einer Platane, doch mit freier Sicht auf Claires hell erleuchtetes Schlafzimmerfenster. Ein Fernglas vor die Brille gedrückt und das Stellrad auf scharf gedreht, starrte ich durch die weit geöffneten Vorhänge. Wie in einem Zeitraffer prasselten die Bildsequenzen auf mich ein. Hans-Peter wälzte sich mit entrückter Mimik. Über, unter, hinter Claire. Ihre Hautporen pressten sich dicht aneinander, die Körpergrenzen schienen sich aufzulösen.  

Als die Regentropfen nur noch mit sanften Kuppen an die Frontscheibe klopften, nahm ich Claire durch das Fernglas näher ins Visier. Drehte und neigte den Kopf, um ihren schlängelnden Bewegungen folgen zu können, bis meine Nackenwirbel gefährlich knackten. Ich schüttelte den Kopf. Diese Gliedmaßen, kaum zu glauben! Wie aus vulkanisiertem Gummi gewachsen krümmten und spulten sie sich um Hans Peters Rumpf. „Sie muss im chinesischen Nationalzirkus als Schlangenmensch aufgewachsen sein“, dachte ich. Doch sofort versuchte ich diese lästige Fantasie, die mein konzentriertes Beobachten sabotierte, in einen fernen Winkel meines Geistes zu verbannen. Schließlich kannte ich Claire schon jahrelang. Jahrzehntelang. Bereits in der Schule teilten wir uns die Strafarbeiten, wenn wir schwatzten, kicherten und den Unterricht darüber vergaßen. Während des Studiums zupften wir uns stachelige Liebeskummerhaken aus den Weichteilen unserer Seelen, versanken in  Rotweinwellen. Und seit einer halben Ewigkeit, ich weiß nicht mehr genau seit wann, telefonierten wir an jedem dritten Tag. Mindestens. Ein Herz und eine Seele, dachte ich. Doch jetzt windet sich Claire um Hans-Peters Herz. Spinnt ihn ein, zieht ihn in ihren Bann. Und ich schämte mich wegen meiner Gutgläubigkeit, beschimpfte mich. „Wie kann man nur so blind sein?“ All die Nächte, in denen Hans-Peter vor Erschöpfung fast torkelnd in sein Bett sackte. Etwas von Geschäftsterminen, endlosen Sitzungen murmelte. All die Lügen, die ich aufsog wie ein Schwamm, um den nagenden Zweifel damit zur Seite zu wischen. Nährten sie doch die Illusion einer intakten Beziehung. Glattpoliert glänzend, ohne Risse und Kratzer.

 

Nach gefühlten Stunden erinnerten nur noch der feuchte Film auf der Pflastersteinfläche und eine tiefe Pfütze vor Claires Hauswand an das Wetterfiasko. Ich ließ das Seitenfenster hinunter. Frisch gereinigte Luft strömte in das Wageninnere, das sich mittlerweile in eine Räucherkammer verwandelt hatte. Noch einmal drehte ich an dem Stellrad meines Fernglases. Blass und in exakter Schärfe prangte Hans-Peters Hintern, der durch die geöffnete Schlafzimmertür hindurch schlüpfte, in meinem Sichtfeld. Sogar ein paar spärliche Härchen, die nicht nur diese Hautpartie karg besiedeln.

Ich lenkte meinen Blick auf Claire. Völlig tiefenentspannt lag sie mit geschlossenen Augen auf der eierschalfarbenen Matratze, das zerwühlte Laken locker um die Lenden geschlungen. Der Federkern wippte in sanften Wellen, als sie sich auf den Rücken drehte und die Arme hinter dem Nacken verschränkte. Ihr schwarzer Body rollte sich bei dieser Bewegung zu einer Schnur zusammen, die knapp über ihrem Nabel spannte.

 

Ein Windhauch streichelte meine Schläfe, fing die Erinnerung ein. Schwebte mit ihr zurück in den Kurzurlaub im letzten September. Claire und ich. Wir lagen zusammen auf der Wiese am See, hüllten uns noch einmal ein in das Geflecht der Spätsommerstrahlen. Hans-Peter schwitzte an diesem verlängerten Wochenende bei einer seiner unzähligen Tagungen. Unternehmerverband oder so. Auf einem Grashalm kauend schwor ich auf Leggins und Etuikleid, meine Ernährung umgehend auf Grünkost umzustellen, als ich auf Claires Bauch starrte. In flacher Linie hob und senkte er sich ohne Fettpolster und Rollen. Trotz Currywurst mit Pommes rot/weiß, die sie soeben in sich hinein geschlungen hatte. Selbstverständlich die XL-Portion. Für einen Moment haderte ich mit den Göttinnen des Schicksals, die ihre Gaben, wie ich fand, höchst ungerecht verteilten. Und als ob sie über die Fähigkeit verfüge Gedanken zu lesen, drehte Claire sich zu mir um, strich mit ihren sonnenölgetränkten Fingerspitzen über meine Lippen und zog die Mundwinkel in die Höhe. „Lach doch lieber, mein Moppelchen!“ flüsterte sie. Ich ballte schon die Fäuste, um sie in spielerischem Zorn auf ihrem Brettbauch trommeln zu lassen.

Dann spürte ich Claires Hände. Sie glitschten an meinen Wangenkanten entlang, über die Adern meines Halses, die schlagartig wie im Tremolo pochten. Als sie die Lippen öffnete, kletterte ein süßherber Geruch in meine Nase. Er erinnerte mich an Tannenhonig, Eukalyptus, oder so. Ein leises Zischen vibrierte in meinem Ohr. Vielleicht von den Speicheltröpfchen, die zwischen Claires Zähnen hervor spritzten, während sie sich in die Träger meines Bikinioberteils festbissen. Sie streiften den Stoff zur Seite. Vorsichtig, fast in Zeitlupe.

Plötzlich schienen die Geräusche um uns herum zu verblassen. Das Brummen der Motorboote, die wie Pfeile den Seespiegel zerteilten und weiße Schaumspuren hinter sich herzogen. Oder das Lachen der Kinder, das vom Spielplatz hinter dem Hotel zu uns herüber schallte. Als handele es sich um Szenen in einer Filmkulisse. Auf stumm gestellt. Claires Hände tasteten weiter, zogen Linien, Kurven, Zacken. Und als ihre Finger zuckten und flatterten, glaubte ich, sie schreibe Liebeshieroglyphen auf meine Haut.

 

03.06.2016 – 18 Uhr 10

 

…Ich spüre ihr Aufbäumen. Der Hinterkopf bohrt sich in meinen Magen, als ich sie noch ein wenig anziehe. Die Polyesterwolke mit Spitzenbesatz. Ein Hauch von Nichts, erstaunlich reißfest. Meine mit dünnem Latex bekleideten Hände umklammern den schwarzen Body, fest eingedreht zu einer wurstähnlichen Schlinge. Claire sackt auf dem Hocker vor der Schminkkommode zusammen, stemmt den Oberkörper mit letzter Kraft in die Höhe. Sie fuchtelt wild mit den Armen. Versucht meine Handgelenke zu erreichen. Hinter Eye-Liner, Puder und Pinsel taucht ihr Gesicht im Spiegel auf, das wie eine groteske Grimasse anmutet. Ich sehe, wie das Augen-Make-Up, mittlerweile schwarz gräulich verlaufen und mit einer Spur Lippenstiftrosa vermischt, sich in ihrem Kinngrübchen sammelt. Claires Zunge rutscht aus dem rechten Mundwinkel. Ein zäher Speichelfaden tropft auf meinen Handrücken. Widerlich. Ich würge, halte den Atem an und schlucke den Ekel hinunter. Rote Punkte wachsen auf Stirn und Wangen. „Ja, du solltest dich schämen“, ich spucke die Worte in ihre Ohren, „du Schlampe!“ Claires Augen beginnen zu kreisen, die Wimpern flattern. Sie röchelt, stöhnt. Ich lockere die Bodyschlinge, nur ein paar Zentimeter. „Na, willst du mir noch etwas mitteilen?“ presse ich hinter verkanteten Zähnen hervor. Und Claires Brustkasten schnellt in die Höhe. Sie schnappt noch einmal nach Luft, wie ein Fisch, der zu lange auf dem Trockenen lag. Dann sammle ich alle Kraftreserven ein, spreize die Unterarme mit scharfem Zug.

 

03.06.2016 – die letzten Pflichten des Tages

 

Der glitzernde Strom schwappt unter meinen Sohlen. Ich stehe auf der alten Brücke am Waldrand, etwa drei Kilometer stadtauswärts gelegen. Der Opel parkt unten vor der Holztafel, die den Wanderern den Weg weist.

 

Ein leiser Windhauch umweht meine Schultern. Ich starre auf die Wasseroberfläche, die sich wie ein Seidentuch kräuselt. Claires Wohnungsschlüssel, den ich nach ihrem Abschied aus der Ménage-à-trois in meine Beuteltasche gleiten ließ, ruht bereits in den Tiefen des Flussbettes. Der Ersatzschlüssel, um präzise zu bleiben, den Claire vor einer halben Ewigkeit bei mir deponierte. Nur das verknitterte Bodyknäuel schaukelt noch auf den Wellen. Bläht sich noch einmal auf, bis es vom Flusswasser ertränkt schwer wie ein Stein aus meinem Blickfeld entschwindet. Plötzlich höre ich ein schnarrendes Klicken. Mein Blick fährt herum und entdeckt ein dürres Wesen, nur wenige Meter entfernt von mir. Mit Rucksack und klobigen Wanderschuhen an den Füßen. Sie muss sich angeschlichen haben aus Wanderweg 7, Höllensteigpfad. Verflucht. Zorn wallt in mir auf. Jeden Busch hatte ich überprüft, jede Einmündung in den Wald. Sorgfältig. Die Luft war rein. Doch jetzt steht sie neben mir, ein Smartphone in der Hand. Fragt sich nur, seit wann! Der Waldboden verschluckt ihre Schritte, als sie näher kommt. „Lach doch lieber“, ruft sie. Klick. „Cheeese!“ Klick. Ein falsches Lächeln schiebt sich über meine Zähne.

 

Und dann versinkt mein Blick in ihren Augen. In ein unschuldiges Braun, zart gesprenkelt wie ein Rehkitz. Bewundert die Hände, die das üppige Haar strähnen.

„Eigentlich schade“, seufze ich, als meine Hand nach dem Töpfermesser tastet, das seit dem letzten VHS-Kurs in meiner Beuteltasche herumfliegt.

„Diese Finger. Unglaublich. So biegsam…“