Von Uta Lemke

Roter Staub soweit das Auge reicht. Bis zum Horizont nur Geröll, nur Wüste. Vom Himmel scheint erbarmungslos die glühende Sonne. Brennt sich durch die dünne Atmosphäre. Die Luft ist genauso staubig wie der Boden unter unseren Füßen. „Trostlosigkeit“. Wenn ich ein Wort finden müsste, um die Landschaft zu beschreiben, das würde es sein. Es ist ein altes Wort, Generationen vor uns haben es schon selten benutzt. Aber es tut seinen Zweck.

Die Erde ist kein Platz der Hoffnung mehr. Worauf sollen wir auch noch hoffen? Es neigt sich dem Ende zu.

Jan gibt dem Stein vor ihm einen Tritt und holt mich damit aus meinen düsteren Gedanken. Dann steht er mit einer plötzlichen Entschlossenheit von dem flachen Stein, auf dem wir sitzen, auf. „Was denkst du von Omas Geschichten?“, fragt er mich. Ich zucke mit den Achseln.

Es ist merkwürdig, hier zu sein. Normalerweise sind wir nicht so oft draußen, aber unsere Großeltern wohnen abgelegen von jeglicher Zivilisation. Opa behauptet, er könnte in der endlosen Weite der Wüste besser atmen als in den engen Städten, die so von Menschen überlaufen sind. Bullshit, wenn ihr mich fragt. In den Städten hat jedes Haus ein Luftreinigungssystem. Der perfekte Anteil an Sauerstoff, sämtliche für Menschen schädliche Gase sind rausgefiltert und die Luft ist angenehm kühl. Alles in allem der perfekte Lebensraum für den Menschen, so drückt es unsere Klassenlehrerin jedenfalls immer aus. Der moderne Mensch ist nicht für ein Leben in der Wildnis gemacht, sagen sie uns. „Welche Wildnis?“, frage ich manchmal zurück.

So perfekt, wie sie uns immer klar machen wollen, sind unsere Städte natürlich auch nicht. Die angenhme frische Luft gibt es nur in den Häusern. Draußen sieht es anders aus. Aber wer läuft schon ohne Atemmaske auf der Straße herum? Klar hat man versucht, den Autoverkehr einzuschränken, aber hat es was gebracht? Die Leute, die reich genug sind, sich ein Auto zu leisten, sind auch reich genug, um die Strafgelder zu zahlen.

Aber Opa lässt nicht mit sich reden. Auch wenn das Leben in der Stadt immer noch um Längen angenehmer ist, als das Leben in der erbarmungslosen Weite der Wüste. Um sich zu rechtfertigen, erzählt er irgendwas von Freiheit und selbstbestimmten Leben. Entfliehen aus der Sklaverei der Städte. Schwärmt von Mutter Natur und der Notwendigkeit, ihr nahe zu sein. Sie zu schätzen und zu bewahren. Ich muss mir mein bitteres Lachen verkneifen, wenn er wieder von seinen Idealen redet. Hätte sich seine Generation mal mehr gekümmert, dann wäre es nie so weit gekommen. Er soll mal schön leise sein, wenn es um ein freies Leben in einer gesunden Natur geht. Er beschwert sich darüber, dass er nicht mehr frei atmen kann? Hätte er mal kein fettes Dieselauto gefahren, als er noch jung war.

Jan räuspert sich ungeduldig. „Also, was sagst du jetzt dazu?“ Ich schaue meinen Bruder nachdenklich an. Er wirkt irgendwie traurig. „Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben soll.“, sagt er. „Es klingt alles so unwahrscheinlich. So schön.“ Er wirkt nicht nur traurig, merke ich. Er wirkt am Boden zerstört, fast so wie nach seiner Trennung von Jessica. Und irgendwie teile ich seinen Schmerz.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie schön der Boden, auf dem wir sitzen, ausgesehen hat. So viel Grün. Ein kleiner Bach. Wolken vor der Sonne, durch die ihr sanftes Licht strahlt. Gras statt Staub unter meinen Füßen. Luft, die man einatmen kann, ohne den Hustenreiz unterdrücken zu müssen. Und erst der Regen. Wasser. Das vom Himmel fällt. Auf meine Haut. Reines, kaltes Wasser.

„Ich glaube ihr.“, sage ich. „So wunderschön.“ Jan setzt sich zurück auf unseren Stein. Betrachtet seine Handflächen. „So viel roter Staub.“, flüstert er. „Überall dieser verdammte Staub.“ Ich stütze mein Kinn in meine Hände und blicke in die Ferne. Rote Wüste, soweit das Auge reicht. Die Erde ist ein roter Planet geworden. Dass wir hier überhaupt noch so ungeschützt sitzen können, grenzt an ein Wunder. Die Atmosphäre ist immer schwächer geworden in den letzten Jahrzehnten. Das Wasser verdunstet. Mit dem Wasser ging unser Markenzeichen dahin. Nichts da mit blauer Planet. Auch das Grün ist verblasst und schließlich verschwunden. Das haben sie uns zumindest in der Schule erzählt. Schwer zu glauben ist es immer noch.

Aber warum sollten sie uns anlügen? Wieso sollte Oma uns anlügen? Sie hat uns sogar Fotos gezeigt. Von genauso demselben Haus, in dem sie jetzt wohnen. Aber nichts sah so aus, wie jetzt. Vor dem Haus war eine grüne Wiese. So grün wie mein Lieblingspullover. Und über dem Haus hingen dunkelgraue Wolken. Und vor den Wolken war das Schönste, was ich je gesehen habe in meinem Leben. Ein Bogen mit bunten Streifen. Rot, orange, gelb, grün, blau, lila. „Regenbogen“ hat ihn Oma genannt. Erst dachte ich, das Bild wäre bearbeitet. Aber Oma hat geschworen, dass es sie wirklich gegeben hat, ihre Regenbögen. Und dann hat sie angefangen zu erzählen.

Sie hat uns von Jahreszeiten erzählt, vom Frühling mit blühenden Bäumen und frisch gemähten Gras. Vom Sommer, der einzigen Zeit des Jahres, wo die Sonne wirklich stark war. Von lauwarmem Sommerregen. Regen. So viel Regen. Sie meint, damals hat sie ihn nicht zu schätzen gewusst. Hat sich geärgtert, dass die Sonne nicht schien. Dass ihre Klamotten durchnässt wurden. Dass die Erde matschig wurde. Ist lieber im Haus geblieben, wenn es mal nicht sonnig war. Jetzt sieht sie das natürlich anders. Aber es ist zu spät.

Sie hat erzählt von Bäumen mit grünen Blättern, die im Herbst bunt werden. Bunte Blätter. Gelb, rot und braun. Und die dann runterfallen. Der ganze Boden bedeckt mit bunten Blättern. Auch darüber hat sie sich früher oft geärgert. So viel Arbeit, die Blätter zur Seite zu schieben, damit sie nicht auf den Gehwegen liegen. Warum auch immer man nicht so etwas Schönes auf den Wegen haben wollen würde, ich werde es nie verstehen.

Und dann kam der Nebel. Und die Kälte. Die ganze Welt gehüllt in Dunst. Aber kein staubiger Dunst, kein erstickender roter Staub. Nebel, hat sie versucht zu erklären, Nebel war feucht. Wie Wasser, aber nicht ganz so nass. Wie Luft gemixt mit Wassertröpfchen. Ganz kleine Tropfen. Und dann konnte man nicht mehr weiter sehen als ein paar Schritte. Und dann haben sie sich zurückgezogen in die kuschelige Wärme ihres Häuschens, eine Kerze angezündet und in die neblige Welt geschaut.

Aber das faszinierendste, neben dem Regenbogen natürlich, war der Schnee. Gefrorenes Wasser. Aber nicht wie Eis. Kleine Kristalle, die zusammen weiß aussehen. Und die vom Himmel gefallen sind. Wie Regen. Aber gefroren. Wie kann es überhaupt so kalt gewesen sein, dass die Sonne nicht alles geschmolzen hat? Der Schnee hat sich dann wie eine Decke auf den Boden gelegt. Und man konnte durch den Schnee laufen und ist in ihn eingesackt. Manchmal war er fluffig und weich und manchmal pappig und man konnte Sachen damit bauen. „Schneemänner“ hat Oma sie genannt und uns ein Foto von drei aufeinanderliegenden weißen Kugeln mit einem selbstgebasteltem Gesicht und Opas Hut obendrauf gezeigt. Es sah so absurd aus, dass wir lachen mussten. Kaum vorzustellen, dass so ein Baumaterial vom Himmel fallen sollte. Und dann auch noch nur aus Wasser bestehend.

Doch auch am Schnee hatte Oma früher viel auszusetzen. Man musste ihn wegschaufeln, damit Leute nicht darauf ausrutschen würden. Und es war ja so kalt. Man konnte nicht nach draußen gehen, ohne einen dicken Wintermantel anzuziehen. Oma mochte die Jahreszeit mit dem Schnee, den Winter, nicht so besonders. Früher, hat sie gemeint, war sie ein großer Fan vom Sommer. So schön warm und sonnig und man ist zum Meer gefahren und ist im Wasser geschwommen. Es war so viel Wasser da, dass man nicht mehr aufrecht darin stehen konnte. Und es war sogar halbwegs sauber, nur wenig Müll. Man hat sogar darauf geachtet, dass das Wasser in den Seeen sauber genug war zum Baden. Sauberes Wasser, nur damit Leute damit Spaß haben können. So eine Verschwendung.

Jetzt vermisst Oma all diese Jahreszeiten. Vor allem den Regen. Und das Grün. Die vielen Bäume, so viele Bäume, dass sie zu Fuß zu einem Wald voll von Bäumen gelangen konnten. Sie vermisst das Wetter, sagt sie. Jetzt gibt es nur noch roten Staub und brennende Sonne. Früher haben sie so viel über das Wetter gemeckert, es war das Gesprächsthema Nummer Eins. Egal ob Regen oder Sonne, ob Nebel oder Schnee, ob warm oder kalt, sie hatten immer etwas am Wetter auszusetzen. Manchmal hat Oma das wohl so sehr genervt, dass sie gesagt hat: „Wetter gibt’s immer. Lass uns mal über was anderes reden.“ Wie falsch sie damit lag…

„Wir sollten wirklich reingehen jetzt.“, sagt Jan auf einmal. Er klingt besorgt. Wir waren schon viel zu lange in dieser schädlichen Atmosphäre, vollkommen ungeschützt.
Die Strahlen der Sonne sind zu stark geworden.
Oder die Erde zu schwach.
Wir haben verloren.
Und es ist unsere Schuld.