Von Katja Oswald

Ich stehe vor dem Spiegel, schaue hoch, schaue runter, schaue mir ins Gesicht und beinahe sofort wieder weg.
Ich darf nicht zu genau hinsehen. Sobald ich mich darauf einlasse, kommen alle Zweifel wieder, erschlagen mich mit der Gewalt einer Dampframme. Dann kann ich weder die Fortschritte der Therapie, noch die aufbauenden Worte meiner Freunde hören. Dann erkenne ich nur noch angeekeltes Schnauben oder höhnisches Lachen.
Schon jetzt spüre ich wie mir das Atmen schwerer fällt.
„Wie kann sie sich das nur traue!n?“
„Ich würde vor Scham im Erdboden versinken!“
„Wer hat die denn aus dem Keller gelassen?!“
„Boah ey, da wird einem ja schlecht!!!!“
Jeder Satz, jede Stimme, jedes Lachen stechen mir ins Herz, treiben mir die Tränen in die Augen.
Sie haben ja so recht, ich hässliches Ding, ich kann das nicht tun. Ich darf das nicht tun.
Schluchzend gehe ich auf die Knie, vergrabe mein Gesicht in den Händen.
Ich bin ein fettes Monster, ich sollte nie mehr vor die Tür gehen. Damit würde ich der Welt diesen Anblick und mir die Demütigung ersparen. Ich will einfach nicht mehr.
Mit 23 sollte ich aus dem Alter eines Mobbingopfers raus sein, mich nicht wieder dazu degradieren lassen, würde meine Therapeutin jetzt sagen.
Aber die hat keine Ahnung von der grausamen Welt da draußen. Sie muss sich ja nicht mit sowas auseinandersetzen, nicht mit ihrer Figur.
Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Warum ich?
Der Nachrichtenton meines Handys reißt mich aus meinem kleinen Nervenzusammenbruch.
Kraftlos und völlig fertig krabble ich zum Bett, schnappe mir das Handy und lasse die Nachricht aufploppen.
„Hey Süße :* Brauchst keinen Badeanzug einzupacken, ich hab dir den Bikini gekauft, den du letztens so toll fandst ;P Ich freu mich schon riesig drauf, dich darin zu sehen. Bis gleich :* I<3Y Karl“
Ein leises, kratziges Lachen entrinnt mir. So ein Idiot, ein richtiger Blindfisch. Aber mein süßer Blindfisch. Er ist mein rettender Anker.
Karl sieht in mir die schönste Frau der Welt, so wie ich bin, mit jedem Makel, mit jedem Kilo extra.
Wieder stehe ich vor dem Spiegel, schaue mir den Badeanzug an. Er ist schwarz soll meine Rollen kaschieren, was er natürlich nicht tut.
Aber anstatt wieder Tränen in die Augen zu bekommen, kann ich lächeln.
Das bin ich. Ich bin kein Model, werde es nie sein. Aber ich werde so geliebt, nicht nur von Karl. Von so vielen Menschen. Und das sind die, die zählen. Sonst niemand.
Wie mein Freund es sich gewünscht hat, lasse ich den Badeanzug weg, ziehe mich an und packe meine Tasche.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass er jeden Moment da sein wird.
Die Tasche über die Schulter geworfen, gehe ich die Treppe hinunter, schnappe mir meine Schlüssel und umfasse die Klinke der Haustür.
Aber dann steht alles still. Ich kann mich nicht bewegen, zittere, starre auf das weiß gestrichene Holz vor mir.
In meinem Kopf kreist es, zwischen Liebesbekundungen und positiven Zusprüchen, höre ich Beleidigungen und gehässiges Kichern.
Sie bringen mich wieder den Tränen nahe. Ich kann das hier nicht. Ich kann so nicht in die Öffentlichkeit. Karl wird sich für mich schämen, wird seine Idee mit dem Bikini in der Sekunde bereuen, in der er mich damit sieht. So blind kann nicht mal er sein. Ich sollte das ganze absagen. Ihm erklären, dass ich mich wohl fühle, vielleicht sogar auf krank machen. Es wäre doch eh viel schöner, zu zweit auf der Couch zu kuscheln und unsere Serie weiterzuschauen.
Auf jeden Fall tausendmal besser, als mich vor aller Öffentlichkeit zu blamieren. Ich will nicht.
Langsam und tief atme ich durch, presse mit aller Kraft die Gedanken zurück in die dunkelste Ecke meines Kopfes.
In der Stille des Flurs horche ich in mich hinein, versuche mich zu sammeln. Ich muss eine Entscheidung treffen, eine, die schon lange fällig ist. Sperre ich mich weiter ein, verstecke mich, oder genieße ich endlich mein Leben?
„Na gut.“
Ich öffne die Haustür und schrecke zurück, da gleich dahinter Karl steht. Dieser strahlt mich an. „Heeyyyy!“
Stolz wie ein Jäger mit seiner Beute hält er den Bikini hoch. „Ich hoffe Größe 42 ist nicht zu groß?“
Lächelnd schüttle ich den Kopf. „Genau richtig.“