Cora Wolf

Die U-Bahn verläßt den Hauptbahnhof und gleitet in den dunklen Tunnel hinein, der zu unserem Stadtviertel führt. Noch zwanzig Minuten ungefähr, dann sind wir endlich zuhause. Ich habe einen Bärenhunger. Auch die Gedanken meiner Mitbewohnerin drehen sich um Nahrungsmittel.

„Hoffentlich hat Torsten nicht wieder meinen Joghurt gegessen.“

„Ist der überhaupt noch haltbar nach der Woche?“

Annes Problem interessiert mich eigentlich gerade nur mäßig. Ich bin vielmehr mit meinem eigenen knurrenden Magen beschäftigt und hänge meinen Phantasien nach, womit ich ihn füllen könnte. Auf jeden Fall hab ich noch ’ne Tiefkühlpizza, soviel ist sicher. Frische vom Italiener wäre ja besser. Nur ist mein Geldbeutel nach unserer Rückkehr von der Ostsee-Yogawoche nicht meiner Meinung.

„Klar ist der noch haltbar! Bis morgen. Ich hab schon drauf geachtet beim Einkaufen.“

Anne, Strategin in allen Lebenslagen, ist entrüstet von meiner Unterstellung, sie könne so ein wesentliches Detail übersehen haben. Selbst ihre spontanen Unternehmungen sind immer exakt durchgeplant.

„Ich wette, er hat sich wieder an meinen Lebensmittelvorräten bedient. Und dann will er es nie gewesen sein und kann sich überhaupt nicht erklären, wo mein Zeug hinverschwunden ist. Einmal wollte er mir sogar einreden, ich würde nachts schlafwandeln und dabei den Kühlschrank leerfuttern!“

Bei der Vorstellung, wie Anne in ihrem Ravenclaw-Pyjama nachts vor dem Kühlschrank steht und mit geschlossenen Augen und zombiehafter Langsamkeit ein Joghurtglas auslöffelt, muss ich losprusten. Sie guckt säuerlich, muss dann aber auch grinsen.

„Zumindest kann er diese Ausrede jetzt nicht bringen, schließlich warst du eine ganze Woche nicht da“, versuche ich sie aufzumuntern.

Oder sollte ich mir aus der FitBar noch einen schönen frischen Salat holen? Allerdings müsste ich dorthin nochmal mit der Tram fahren, und dazu verspüre ich gerade herzlich wenig Lust. Die Zugfahrt war schon lang genug, außerdem haben wir während des Retreats genug gesundes Zeug gefuttert. Also doch Tiefkühlpizza?

„Ich finde Torsten sowieso reichlich merkwürdig“, erklärt mir Anne zum hundertsten Mal, seit unser neuer Mitbewohner bei uns eingezogen ist.

„Ich meine, man bekommt überhaupt nichts von ihm mit. Wozu sucht sich jemand eine WG, wenn er dann doch nur sein eigenes Ding macht?“

„Um die Mietkosten gering zu halten?“ kontere ich. Ein bißchen kann ich Torsten schon verstehen, auch wenn er es mit seiner Zurückgezogenheit manchmal auf die Spitze treibt.

„Es ist halt nicht jeder so superkommunikativ und gesellschaftstauglich, aber diese Menschen müssen auch irgendwo wohnen, und in der Stadt alleine ’ne bezahlbare Wohnung zu finden, da braucht man schon verdammt viel Glück oder ’ne reiche Erbtante. Immerhin macht er seinen Anteil der Hausarbeit.“

„DAS ist allerdings ein Glück“, pflichtet Anne mir bei. In den fünf Jahren, in denen ich jetzt mit ihr zusammen in der Dreier-WG lebe, haben wir da auch schon ganz andere Mitbewohner erlebt. In der Hoffnung, dass das Thema jetzt durch ist, beschäftige ich mich in Gedanken mit der Speisekarte des chinesischen Restaurants zwei Straßen weiter. Aber nee, auf chinesisch habe ich heute keine Lust.

„Und ich wette trotzdem, er hat meinen Joghurt gegessen.“

„Nun wart doch erstmal ab. Vielleicht hat er es endlich kapiert, jetzt wo du es ihm nachdrücklich verklickert hast. Du warst einfach zu nett vorher. Meine Sachen hat er ja auch noch nie gegessen. Mit manchen Leuten muss man halt einfach Tacheles reden.“

Mein Gegenüber hat jedoch eine andere Theorie: „Ich glaube, das liegt eher daran, dass du nur Aldi- und Lidl-Sachen kaufst, da ist er wohl zu verwöhnt für.“

Ich gucke nur noch genervt, woraufhin Anne klein beigibt: „Schon gut, ich hör ja schon auf. Noch zwei Stationen, dann sind wir da. Ich kann langsam nicht mehr sitzen.“

Als die U-Bahn endlich an unserer Haltestelle angelangt ist und wir zum Finale auch noch die Koffer nach oben schleppen dürfen, weil der Fahrstuhl kaputt ist, fühle ich mich langsam genauso brummelig wie mein Magen. Der Duft aus dem Döner-Imbiß nebenan steigt mir in die Nase. Stimmt, an den habe ich ja gar nicht gedacht! Aber erstmal die Koffer raufbringen. Wir schleppen unsere Sachen in den dritten Stock, Anne reißt die Tür auf und ruft hinein:

„Wir sind wieder da!“

Keine Antwort, das heißt wohl, dass Torsten gerade durch Abwesenheit glänzt. Oder er hat sich in seinem Zimmer verbarrikadiert und will uns erst später mit seiner Gegenwart beehren. Ist mir ehrlich gesagt egal, mein Magen ist nur noch ein großes knurrendes Ungeheuer. Anne läuft erstmal schnurstracks in die Küche und inspiziert den Kühlschrank. Sie zählt drei Mal nach, bevor sie ungläubig feststellt, dass alle Joghurtbecher noch vollzählig und unangetastet vorhanden sind.

„Wow, das hätte ich echt nicht gedacht. Ich glaube, Torsten hat es wirklich kapiert. Dann geh ich jetzt erstmal duschen.“

Ausgezeichnete Idee Anne, dann kann ich mich jetzt endlich dem Kühlschrank widmen, oder besser gesagt, dem Tiefkühlfach. Oder soll ich doch nochmal schnell zum Döner runterrennen? Leckerer wär’s ja schon… aber Moment, habe ich überhaupt noch soviel Bargeld? Ein Blick ins Portemonnaie belehrt mich eines Besseren. Nochmal zur Bank zu gehen ist mir jetzt zu viel. Dann eben Tiefkühlpizza, fertig, aus.

Die Badezimmertür fällt hinter Anne ins Schloß. Es ist still im Raum. Ich treffe die längst fällige Entscheidung und öffne die Tür. Kälte schlägt mir entgegen, und mein Blick trifft auf nichts außer ein Päckchen italienische Tiefkühlkräuter, neben dem ein gelber Post it-Zettel liegt:

„Hallo Marie, tut mir leid, ich habe deine Pizza gegessen. Hatte Hunger und war zu faul, zum Döner zu gehen. Ich bring dir nächste Woche ’ne neue mit. Sorry, Torsten.“