Michael Kothe

Ich bin Nikolaus. Der Nikolaus.
Es ist Advent, die Vorweihnachtszeit.
Ich lebe in einer Wohngemeinschaft. Wir sind ein bunter Haufen, jeder sieht anders aus, jeder hat eine andere Geschichte, eine andere Meinung. Jeder hat sein Zimmer, seine eigene Tür nach draußen. Da ist der Tannenbaum, der von früh bis spät seine Spitze mit dem goldenen Stern wiegt, da sind Stars und ein paar Sternchen, die sich dafür halten. Da sind unter anderem das Schaukelpferd und der Junge, der nichts tut außer sich in seiner Wiege zu schaukeln, die mit goldfarbenen Fasern ausgelegt ist – Stroh nennt er es –, und vor sich hinzusummen. Auf ihn bin ich etwas neidisch. Ausgerechnet der Jüngste hat das größte Zimmer, die breiteste Tür. Verzaubert bin ich von der Blonden im weißen Kleid, sie ist wirklich hübsch mit ihren Flügeln, die sie hier nicht richtig ausbreiten kann. Altersmäßig passen wir trotz all meiner Sehnsucht nach ihr nicht zusammen, ich könnte ihr Großvater sein.
So sehe ich auch aus. Mein Haar ist lang und weiß, ich sollte mal wieder zum Friseur gehen, finde aber keinen, und mein Bart überwuchert mein Gesicht. Zugenommen habe ich, fühle mich mit meinem Übergewicht besonders in Gegenwart meines Rauschgoldengels unwohl. Aber wir haben wenig Bewegung, und die Weihnachtsvorbereitungen bauen nicht wirklich Kalorien ab. Meistens sitzen wir zusammen und philosophieren.
Stammtischpolitik hat es neulich einer aus unserer Runde genannt. »Wir ändern ja sowieso nichts.«
Das ist es, was mich stört. Früher war alles besser! Da ging ich auf die Straße, habe brave Kinder beschenkt, hin und wieder auch Erwachsene, und unartige bestraft. Heute schert sich kaum jemand um mich und um das, was ich tue oder auch nicht. Die richtigen Geschenke überbringe ich auch nicht mehr, höchstens ein paar Süßigkeiten, und wenn jemand verantwortungsvoll ist, auch etwas Obst nach Marktlage.
Zwar habe ich noch meinen Tag wie beinahe vier Wochen vorher ein anderer Heiliger aus meiner Epoche. Martin. Sein Namenstag wird begangen mit Gänsebraten, abends ziehen Eltern mit ihren Sprösslingen durch die Straßen, erhellen sie mit Laternenumzügen. Sogar besungen wird Martin, zumindest in einigen Gegenden, etwa im Rheinland, dessen Dialekt ich nur bruchstückhaft verstehe. »D´r hillije Zinter Mätes, dat wor ne jode Mann. Dä jof der Kinder Kääzcher un stoch se selver an..« Ja, Martin ist ein guter Mann, aber dass er Kerzen verschenkt und Spaß am Zündeln hat, wusste ich vorher nicht. Die Kinder werden auch ihn verdrängen, wenn sie älter sind. Erst, wenn sie selbst Kinder haben, werden sie sich erinnern und ihren Kindern Bastelmaterial für Papierlaternen in den Kindergarten mitgeben.
Und wer besingt mich? Ich meine das nicht wörtlich, aber heutzutage, halbwegs vergessen, gibt es gerade noch am Vorabend meines Namenstages kurzzeitig Vorbereitungen in manchen Haushalten, mein Namenstag ist ein normaler Tag. Gefeiert wird höchstens, wenn er auf ein Wochenende fällt, indem man ausschläft und sich darüber freut, dass man nicht zur Arbeit muss – Busfahrer und Krankenschwestern ausgenommen. Das ist so, seit mir der andere den Rang abgelaufen hat. Auch er heißt Claus, wenigstens mit »C«, er lässt sich Santa nennen. Zwar eine Werbeerfindung des amerikanischen Herstellers koffeinhaltiger Limonade, aber sehr rege. Er hetzt in seinem roten Kapuzenmantel durch Großstadtstraßen, und wenn er müde ist, setzt er sich auf das Sims eines Schaufensters. Oder, wenn man ihn lässt, geht er in das Kaufhaus hinein und lässt sich mitten in der Weihnachtsdekoration nieder, wippt Kinder auf seinen Knien und lässt sie an seinem Bart ziehen. Und die Kaufhäuser belohnen ihn, wenn die Eltern der Kinder, die auf seinen Knien sitzen, teure Geschenke kaufen. Im Gegensatz zu mir ist er nicht authentisch, er ist nur ein Abziehbild, die Gallionsfigur des Konsums!
Aber meine Gedanken schweifen ab. Das Problem ist der Umgang der Menschen mit dem bevorstehenden Fest. Ich frage mich: Wann habe ich mich den Anschluss verpasst? Wir leben recht zurückgezogen, haben vielleicht von unseren alten Identitäten zu großen Abstand genommen. Uns gibt es ja nur einmal im Jahr.

Wir sitzen mal wieder zusammen.
»Es gibt eine Parallelwelt. Hauptsächlich Menschen leben dort. Zumindest prägen sie ihr ihren Stempel auf.« Der Tannenbaum sagt es, er ist der älteste in unserer Gemeinschaft, hat die meiste Lebenserfahrung.
»Ich erinnere mich wieder. Menschen. Ganz früher hat sich abends die Familie versammelt«, sinniere ich, »um einen Weihnachtsbaum herum mit Wachskerzen und Lebkuchenanhängern. Oder, wer …«
»Das war ich.« Die Stimme des Tannenbaums zittert leicht, er seufzt. Dann verbarrikadiert er sich in seiner Erinnerung.
»Oder, wer noch keinen zu Hause hatte«, fahre ich fort – mit erhobener Stimme, um nicht nochmals unterbrochen zu werden – »um den Adventskranz. Gesungen hat man. Und vorgelesen. Später, als hätte man die Stimme verloren, kamen die Weihnachtslieder von Schallplatten, Tonbändern oder CDs. Heute? Nichts mehr. Außer Kommerz. Im allerschlimmsten Fall werden noch am Heiligen Abend ein paar Verlegenheitsgeschenke besorgt, man lässt sie im Geschäft verpacken und ist enttäuscht, wenn sie nicht gefallen.«
Diesmal seufze ich.
»Man müsste den Menschen mal die Leviten lesen«, beendet mein Rauschgoldengel die peinliche Pause. »Nikolaus, du könntest doch …« Sie verstummt, als ich die Augenbrauen zusammenkneife.
Aber sie hat etwas in mir berührt. Eine vergessene Saite beginnt zu schwingen. Erst ganz zart, dann stärker, am Ende heftig. Ich hatte doch früher … und warum nicht heutzutage wieder? Ein kurzes Nicken in die Runde, dann verlasse ich die Gemeinschaft, ziehe mich in mein Zimmer zurück. Ich muss nachdenken.

Es ist wieder soweit, wie jedes Jahr in der Adventszeit. Wie in Big Brother oder dem Dschungelcamp verschwindet jeden Tag einer von uns. Da ihre Zimmer nicht nebeneinander liegen, wird die Reihenfolge wohl durch die Nummer an ihrer Tür bestimmt. Sie werden in die Parallelwelt geholt, zu den Menschen. Was die mit ihnen machen? Ich weiß es nicht, keiner kann es mir sagen.
Ich zähle eins und eins zusammen.
»Ich gehe«, stelle ich in unserer abendlichen Runde fest. »Zwei Dinge treiben mich. Erstens weil, wie unser Engel hier gesagt hat, …« Ich strahle sie an, sie strahlt zurück. »… ich die Menschen wieder zur Besinnung ober besser gesagt, zur Besinnlichkeit, zurückführen will. Und zweitens will ich nicht fremdbestimmt sein und warten, bis sie mich holen.«
Ein Raunen geht durch unsere Gemeinschaft. Der Stern auf der Tannenspitze verliert beinahe den Halt, so stark schüttelt sie sich, das Schaukelpferd nickt zustimmend, mein Engel drückt mir einen Kuss auf die Wange, und der Junge summt weiter, als habe er nicht zugehört.

Gestern habe ich an einer Seite meiner Türe einen Schlitz entdeckt, aber ich bekam sie nicht aufgestemmt. Ich habe kein Werkzeug, nur meine Rute. Sie ist kein Zweig, eher ein Reisigbesen ohne Stiel. Einzelne Reiser kann ich herausziehen, mit ihnen stochere ich in dem Schlitz, er wird breiter und länger, das Türblatt wellt sich dort, wo ich gearbeitet habe. Dann entdecke ich weitere Schlitze, darüber und darunter, auf drei Seiten. Ich muss also nur die Stege durchtrennen. Das macht es mir leichter, in die Freiheit der Parallelwelt zu kommen, meine Mission auszuführen.
Was ich zu tun habe, ist nebulös. Ich werde improvisieren müssen. Leicht wird es nicht werden, darüber sind wir uns hier alle einig. Traue ich es mir zu? Will ich überhaupt?

Schon wieder wird uns heute einer entrissen, ein kleiner Stern. Wir sind schockiert, verkriechen uns in die hintersten Winkel unserer Kammern und verhalten uns ganz still. Wann sind wir dran? Als nichts mehr passiert, treffen wir uns, lamentieren aufgeregt. Mein Engel wiederholt seinen Vorschlag, diesmal mit deutlich mehr Vehemenz.
»Wir werden zwar für uns nichts ändern, aber die Menschen werden mehr auf uns achten.«
»Uns achten! Nicht auf uns!« verbessert der Weihnachtsbaum. Die alte Tanne hat irgendwoher Lametta aufgetrieben und sich in Schale geworfen. »Uns wieder achten!«
»Ich weiß nicht recht.« Ich äußere meine Zweifel.
»Du schaffst das schon!« Rundum ertönt Zuspruch.
Aber …
»Ich weiß nicht recht.«

»Karl, hast du …? Kaaarl, hast du die Haken etwa in den Türrahmen geschraubt?« schallt es spätabends aus der Parallelwelt in mein Stübchen. Ich unterbreche meine Arbeit.
»Nein, Schatz, zwischen Wand und Rahmen ist ein Spalt, da habe ich sie eingeklemmt. Morgen nehme ich sie wieder heraus. Siehst du, so! Oder willst du wieder Stiefel hinstellen?«
»Kommt gar nicht in Frage! Wozu hätte ich denn dann ein halbes Dutzend rote Strümpfe gestrickt?«
»Naja, mal eben vier!«
Ich höre ein Kichern, ein gehauchtes »Lass das!«, dann ein zärtliches Schmatzen. Es erinnert mich an den Kuss meines Engels.

Ich setze mich erst einmal hin, muss meine Gedanken sammeln, mir über meine Absicht klarwerden. Will ich überhaupt hinaus? Was ist mir beschieden? Bleibt die Adventszeit geprägt von Hektik, Ärger über Schmuddelwetter und Vorweihnachtsstress? Oder bin ich in der Lage, den Menschen ihre Beschaulichkeit, innere Ruhe und Ausgeglichenheit, ja Freude, zurückzubringen? Ich bin der Nikolaus, der Nikolaus, aber schaffe ich es? Und wenn ich bei meiner Familie, bei Karl und Schatz und den Strümpfen anfange?
Ich bohre unentschlossen weiter.

Irgendwann habe ich es erreicht. Alle Stege sind durchtrennt, die verbliebene Seite der Tür ist durchgehend von oben bis unten geschlossen, aber das Türblatt lässt sich aufbiegen. Ich lausche, zuerst in mich hinein, dann nach draußen.
Es ist still im Raum. Ich treffe die längst fällige Entscheidung und öffne die Tür.

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