Von Yvonne Tunnat

Inzwischen schmeckte jeder Schluck Bier im Abgang ein wenig nach vergorenem Apfelsaft mit etwas Kotze. Und ich war immer noch taghell im Kopf. Würde ich es noch schaffen, mich zu betrinken?

Ich war beim fünften Bier, als ein weiterer Gast hereinkam. Vorher war ich mit der Barfrau alleine gewesen. Ihre zwei müden Zöpfe schimmerten leicht rot. Barfrau Pippi, so nannte ich sie bereits für mich selber.

Der neue Gast grüßte Barfrau Pippi und setzte sich genau neben mich. Echt jetzt? Als ob nicht alle anderen Plätze auch frei gewesen wären! 

Er schaute mich an. „Dich habe ich hier ja überhaupt noch nie gesehen. Neu hier?“

Neu hier? Das hier war doch kein Klassenzimmer. Ich nickte. “Bin vor ein paar Wochen hergezogen.“

„Merkwürdig, dass du noch nie hier warst. Ist doch n hübscher Laden.“

Sogar Pippi zog die Augenbrauen hoch. Ich sah nach unten. Der Boden war fast an jedem Zentimeter mit Brandflecken bedeckt.

„Ich bin sonst zu Hause. Sofa. Netflix. Freundin.” Ich sah ihn an. Tränensäcke. Zurückweichendes Haar. Ein Bierkasten von einem Bauch. 

Er betrachtete mich ebenso gründlich. “Warum bist du dann jetzt hier?”

Ich seufzte statt einer Antwort.

“Ich bin übrigens Stefan.” 

Ich presste mir ein Lächeln heraus. Seine Augen waren braun. Erinnerten mich an Lucky, meinen Hund, als ich klein war. Mit dem konnte ich immer alles besprechen.

“Georg”

“Also, warum jetzt?” 

“Ich bin Student”, sagte ich. Als ob das irgendetwas erklären würde.

Er nickte, als wäre das eine passable Antwort. “Unser Michael auch. Vor drei Monaten ausgezogen.”

Er winkte Pippi heran, die ihm daraufhin ein Bier hinstellte, und nahm einen tiefen Schluck. Etwas Schaum blieb auf seiner Nasenspitze kleben. Er hatte Haare auf der Nase. Schwarze und ein paar graue. Er wischte sich den Nasenrücken ab und trocknete die Hand an seiner Cordhose.

“Wirtschaftswissenschaften”, fuhr er fort. “Zum Glück um die Ecke. Da freut sich die Mama.”

Er grunzte, ein Grinsen nur unzureichend verbergend. “Ich eigentlich auch. Als er klein war, haben wir immer zu ihm gesagt: Du wohnst für immer bei uns. Damals hat er das fleißig wiederholt.”

Ich nickte, als wüsste ich irgendwas darüber. 

“Was ist denn los, mein Junge?”

Ich zuckte zusammen. Mein Junge? Er hatte das erste Bier schon ausgetrunken und winkte Pippi für Nachschub. 

“Läuft es nicht in der Uni? Ich will dich nicht aushorchen, aber manchmal mache ich mir schon Sorgen um meinen Jungen. Sitzt der auch in Kneipen und besäuft sich? Ist dann am nächsten Morgen zu verkatert und verpasst seine Vorlesungen – würde mir nicht in den Kram passen.“

So viele Worte. Anstrengend. Mein Kopf wurde schon schwerer, mein Blickfeld verengte sich. Zumindest Autofahren könnte ich jetzt sicher nicht mehr.

“Schon gut”, fing ich an. „Es ist etwas passiert heute. Beziehungsweise, es wird etwas passieren und ich habe heute davon erfahren. Von meiner Freundin.“

„Schwanger?“, fragte Stefan.

What the? Ich schaue ihn an. Gleich ins Schwarze. Dieser komplett Fremde mit den Haaren auf der Nase. 

„Nun schau nicht so verblüfft, junger Freund“, sagte Stefan. „Und warum bist du dann jetzt nicht bei ihr?“

Das hatte was.

„Ich weiß nicht. Es kam alles ein bisschen plötzlich.“

„Ist das nicht immer so?“ Stefan lachte. „Ich war erst 19, als meine Ingrid mir erzählte, dass Michael unterwegs sei. Aber ich bin nicht saufen gegangen, sondern habe ihr einen Heiratsantrag gemacht.“

„Ein Kind. Jetzt schon!“

„Irgendwas spricht doch immer dagegen, wirste merken.“

Da ich keine Antwort gab, sprach Stefan weiter: „Es ist für die Kinder schon schön, junge Eltern zu haben.“

„Hm”, machte ich und zerriss den Flieger, den ich aus dem Bieretikett gebastelt hatte, in kleine Streifen. “Aber du weißt schon. Jetzt schon? Das Ende der grenzenlosen Möglichkeiten. Aus und vorbei. Gestern war noch alles möglich. Ich bin gebunden. An Haus, Hof und Höschenwindeln.” Doch so viele Worte. Ich war fast von mir selber beeindruckt. Stefan grunzte, nahm sein zweites Bier in Empfang und verpasste seinen Nasenhaaren eine neue Schaumkrone.

“Klar. Drück mal die Pausetaste. Wenn das Kind größer ist, geht’s weiter. Nur besser. Weil du’s dann zu schätzen weisst. Klar, während sie klein sind, heißt es Freizeit ade.” Er grunzte erneut, wischte sich die Nase ab. „Als unser Michael drei war, ist er unternehmungslustig geworden. Überall raufgeklettert.“

Stefans Gesicht lächelte. Da war noch etwas Anderes in seinen Augen. Nostalgie? Als könnte er die damaligen Szenen direkt vor sich sehen.

„Einmal ist er raus auf den Balkon und ist am Geländer auf die andere Seite geklettert. Da stand er nun, im sechsten Stock: auf der falschen Seite des Geländers.“

Stefan schüttelte den Kopf. „Ich natürlich sofort auf den Balkon gerannt. Hab ihn hochgezogen. War verdammt knapp. Fast wäre er abgestürzt. Ich hab’s geschafft, ihn noch zu packen. Gerade mal so.“

Stefan hielt zwei Finger hoch und drückte sie zusammen.

“Habe danach stundenlang gezittert. Konnte gar nicht mehr aufhören. Das Kind saß vergnügt zu meinen Füßen und hatte das alles längst vergessen. Wenn er damals abgestürzt wäre … Meine Fresse.” Er schluckte. “Ich glaube, Ingrid hätte den Verstand verloren. Ich vielleicht auch. Hab mal von einer Mutter gehört, deren Sohn gestorben ist. Die hat sich umgebracht. Keine drei Wochen später. Pulsadern. Furchtbar, ein Kind zu begraben. Das ist doch wider die Natur!“

Ich nickte. Was für eine Story.

„Danach haben wir ihn keine Sekunde mehr aus den Augen gelassen. Nie wieder. Und wenn er zu wagemutig wurde, gab’s Schimpfe. Zu seinem Besten, verstehste?“

Ich nickte wieder. Stefan trank den Rest von seinem Bier und bestellte ein neues.

Pippi stellte ihm eines hin. Irgendwie sah sie traurig aus. Fast hätte ich sie gefragt, was los war. Aber dann warf Stefan seinen Kopf nach hinten und lachte: „Das erste Mädchen hatte er zu Besuch, da war er vierzehn. Ingrid kommt ins Zimmer rein, da sitzt das Mädchen nur in Unterwäsche da. Michael voll bekleidet. Strip-Poker. Er hat sie nicht gerade gewinnen lassen.“

Stefan lachte noch mehr und ich begann langsam auch zu grinsen. Sogar Pippi lächelte. Ein wenig jedenfalls. Etwas grün im Gesicht sah sie aber aus. „Das war dann seine Masche. Später wurde er dann etwas netter.“

„Was wird meine Mutter wohl sagen, wenn sie erfährt, dass sie Oma wird?“ fragte ich eher mich selber. Stefan antwortete trotzdem.

„Die wird sich freuen. So wie Ingrid.“

„Ihr Michael auch? Der ist doch sogar jünger als ich.“

„Zwanzig, ja. Vor drei Wochen Vater geworden. Süße kleine Tochter. Deswegen ist er ja ausgezogen. Die haben sich eine hübsche Wohnung gemietet. Näher an der Uni.“

„Wie heißt sie denn?“

„Wer?“

„Na, ihre Enkelin.“

„Ach so, eh, Inge.“

„Fast wie ihre Frau.“

Stefan nickte heftig. Pippi sah angestrengt aus dem Fenster.

 „Na, wie auch immer.“ sagte Stefan. „Ich schätze, auch deine und ihre Eltern werden sich freuen.“ Er erhob sich, reichte mir die Hand zum Abschied und blinzelte wild, ging ein paar Meter Richtung Tür, drehte sich noch mal um: „Gute Nacht, Georg. Genieß die Zeit. Sie geht viel zu schnell vorbei.“

Die Tür schaukelte noch ein paarmal auf und zu. Die Barfrau und ich sahen zu, bis sie ausgependelt hatte. 

„Das macht er jedes Mal”, sagte sie dann.

„Was?“

„Er erzählt immer von seinem Sohn, wenn jemand Fremdes hier ist, der ihm zuhören mag. Wir mischen uns da nie ein.“

„Muss langweilig sein, das ständig zu hören”, mutmaßte ich.

Die Barfrau sah mich lange an. Irgendwie beunruhigend.

„Leider wird es das nie. Diese Geschichte mit Michael und dem Balkon. Als sein Sohn drei Jahre alt war.“

„Er meinte, es sei knapp gewesen.“

„Das war es auch”, sagte die Barfrau. „Er hätte es fast geschafft.“

 

V3