Von Franck Sezelli

Der Schnee fiel in dichten Flocken vor den Fenstern des Instituts für Mikrobiologie im ostfinnischen Kuopio. Es war bereits nach 10 Uhr, als der Doktorand Ville Hämäläinen in das Labor hereinstürmte und den Professor aus seinen Grübeleien hochschrecken ließ.

»Na, da sind Sie ja endlich. Ist Ihr Motorschlitten nicht angesprungen?«

»Entschuldigen Sie, Herr Professor, ich wusste nicht, dass Sie heute auf mich gewartet haben. Ich war mit dem Artikel beschäftigt, den Sie mir empfohlen hatten.«

»Von welchem Artikel sprechen Sie?«, fragte zerstreut der Institutsleiter Lauri Koivistaari.

»Communication of Tardigrades by means of Symbols«, antwortete Ville etwas befremdet.

»Ja, ich erinnere mich. Da ging es doch darum, dass die Bärtierchen über komplexe Verständigungsmöglichkeiten verfügen. Von einem Inder aus Bangalore geschrieben? Was halten Sie davon?«

»Die Arbeit ist von einem gewissen Vedanarayanan Ganesan des Department of Microbiology and Biotechnology der University of Bangalore. Auf jeden Fall hochinteressant, manches erscheint mir aber auch etwas spekulativ. Ob die Hypothesen einer objektiven Überprüfung standhalten, wage ich zu bezweifeln.«

»Warum soll das nicht stimmen? Die Bärtierchen sind immer wieder für unglaubliche Überraschungen gut. Der indische Wissenschaftler hat die nur wenige Mikrometer großen Teilchen, die schon früher in der unmittelbaren Umgebung von Tardigraden entdeckt wurden, erstmals genauer untersucht. Bisher hielt man sie für normale Stoffwechselprodukte der Wasserbären. Er aber meint, sie seien eine Form der Verständigung untereinander. Seine Analysen scheinen die Hypothese zu bestätigen.«

»Was hat er denn gemacht, Herr Professor?«, fragte etwas provokativ der junge Mann seinen Chef. »Er hat Modelle dieser Ausscheidungen, die diese Teilchen wohl zweifellos sind, durch eine neuartige Software der Künstlichen Intelligenz geschickt und ihren Symbolcharakter bestätigt bekommen. Das ist ja bei dieser Ausgangslage kein Wunder! Diese Software würde wahrscheinlich in fast allem, was ihr vorgelegt wird, Symbole erkennen. Außerdem ist der Report dieses Inders schon zwei Jahre alt. Gibt es irgendeine nennenswerte international anerkannte Resonanz auf diese Arbeit?«

»Es ist das Vorrecht der Jugend zu zweifeln.« Versöhnlich beendete der Professor den Disput mit seinem Doktoranden.

 

Einige Monate später berichtete der Professor dem wissenschaftlichen Assistenten von seinen neuesten Forschungen und deren Ergebnissen. Er hatte Bärtierchen, die mindestens 30 Jahre im norwegischen Gletscher Jostedalsbreen tiefgeforen überdauert hatten, reanimieren können und ihr Genom gründlich analysiert. Dabei war er auf fremde DNA gestoßen.

Eine Redepause des renommierten Forschers nutzte Ville Hämäläinen dazu, um einzuwerfen, dass dies doch nichts Besonderes wäre. Es sei schon länger bekannt, dass bis zu 17,5% der Gene der Tardigraden Fremdgene sind.

Der Professor trumpfte damit auf, dass es ein ihm bisher unbekanntes menschliches Gen war, dass er dort neu entdeckte.

»Heute nun kam per Mail eine Reaktion auf meine diesbezügliche Veröffentlichung. Das Institut für Vorchristliche und Interstellare Kommunikation in Brindlai aus Apulien hatte dieses Gen schon vor drei Jahren entdeckt. Es konnte bisher nur in einer süditalienischen Großfamilie, ausschließlich bei deren weiblichen Angehörigen, festgestellt werden und wird als Quasselstrippen-Gen bezeichnet.«

»Quasselstrippen-Gen? Lustig! Das würde ja die These der Kommunikationsfähigkeit der Bärtierchen gut stützen und vielleicht sogar erklären«, warf  Ville Hämäläinen nachdenklich ein.

»Es geht noch weiter, mein lieber Ville«, fuhr Professor Koivistaari mit Begeisterung fort. »Der Institutsdirektor hat mich auch darüber informiert, dass die von Ganesan beschriebenen Symbole eng mit der sumerischen Keilschrift verwandt sind.«

»Das gibt’s doch nicht!«, rief der junge Forscher ungläubig aus.

»Oh doch!«, entgegnete recht heftig der Professor, seine Augen glänzten wie im Fieber. »Beide Fakten sprechen für die Kommunikationsthese aus Bangalore. Weil man weiß, dass die Bärtierchen selbst im Vakuum und der Kälte des Weltraums überleben können, bekommt durch diese Entdeckungen die These, dass das intelligente Leben auf der Erde extraterrestrischen Ursprungs ist, völlig neue Nahrung. Es könnten Tardigrade gewesen sein, die aus dem All auf Umwegen den Menschen die Keilschrift gebracht haben, die man bisher als eine mehrere Tausende Jahre alte Erfindung der Sumerer ansah.«

 

An einem der nächsten Abende setzte sich der ehrgeizige Ville an das Elektronenmikroskop und betrachtete sich die als Symbole enttarnten Rückstände der Bärtierchen. Mit dem Keilschrift-Dechiffrierer der Altlinguisten aus Madrid, zu dem er per Internet Zugang erhalten hatte, gelang es ihm, den am häufigsten auftretenden, etwa 7 Mikrometer messenden Klecks zu entziffern. Er konnte sich eines Grinsens nicht erwehren. Das gibt es doch nicht!, dachte er. In Keilschrift drückten die Sumerer durch dieses Symbol das Wort ‘Trottel’ oder ‘Dummkopf’ aus. Wollen die Tardigraden den Menschen damit etwas sagen?

 

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