Von Ingo Pietsch

Halima sah aus rot unterlaufenen Augen starr vor sich hin.

Sie hockte auf dem Boden einer Gefängniszelle und hielt ihre Mutter fest im Arm.

Bei jedem Klong, den der Gummiknüppel des Wärters an den Gitterstäben machte, zuckte sie zusammen.

Erinnerungen stiegen in ihr hoch, wie das rhythmische Tuckern des Dieselmotors des Fischkutters, mit dem sie und ihre Familie aus Syrien geflüchtet waren.

Oder dem Rattern des Maschinengewehres, dem sie, aber nicht ihr älterer Bruder entkommen waren und der ihnen wahrscheinlich die Flucht, durch seinen Tod ermöglicht hatte.

Sie schaute auf, als der Wärter, ein grobschlächtiger Kerl von fast zwei Metern Größe, ihr einen Kussmund machte.

Halima war sehr hübsch und besaß ungewöhnlich leuchtend grüne Augen.

Der Typ hatte den gleichen gierigen Gesichtsausdruck, wie der Kapitän des Kutters, der ihre beiden minderjährigen Brüder so angestarrt hatte.

Halima hatte Kopfschmerzen. Die lange Fahrt ohne Nahrung und Wasser hatten ihr stark zugesetzt. Ihrer Mutter auch.

Vor ihr auf dem Boden stand ein Eimer mit Kelle und abgestandenem Wasser.

Daneben ein weiterer Eimer für die Notdurft.

Den hatte es nicht einmal auf dem Schiff gegeben.

Tagelang waren sie im Laderaum mit Fischresten, ohne Licht oder frische Luft, mit vielen anderen Flüchtlingen eingepfercht gewesen.

Einmal hatte einer der Matrosen eines der völlig entkräfteten Mädchen verschleppt und nicht mehr wiedergebracht.

Halima hielt sich die Ohren zu. Um sie herum wimmerten die Frauen und Mädchen und sprachen stille Gebete.

Der Fischkutter war vor der türkischen Südküste aufgebracht worden.

Die Hafenpolizei hatte das Schiff zum Umkehren aufgefordert, aber der Kapitän hatte nicht klein beigegeben und war einfach weitergefahren. Daraufhin hatten die zuständigen Behörden das Feuer auf den alten Kahn eröffnet und ihn beinahe versenkt.

Die Mannschaft war mit einem Beiboot im Dunklen entkommen.

Halima und die anderen im Laderaum hatten davon nur wenig mitbekommen – wohl aber das Schießen von Gewehren, das Schreien und Fluchen von Soldaten.

Halima zitterte am ganzen Körper, als alles wieder hochkam.

Das Schiff war auf Grund gelaufen und Wasser in den Rumpf gelaufen.

Nur mit Mühe waren sie dem sinkenden Wrack entkommen. Ihr Vater hatte die Jungs gehalten und Halima ihre Mutter mitgezogen. Die anderen hatten nicht so viel Glück, die meisten fanden den Tod  in den Fluten, weil sie nicht schwimmen konnten.

In der Kälte und Dunkelheit waren sie gerade bis zum Strand gekommen. Dort wartete schon das Militär, das sie eingesammelt, getrennt und anschließend, übergangsweise in ein Gefängnis gebracht hatte.

Alles, was sie besaßen, war das, was sie am Körper trugen, ein bisschen Schmuck, eingenäht in versteckten Taschen und zerknitterte Fotos.

Die Überfahrt hatte ihr ganzes Geld gekostet und Ausweise und Urkunden waren vom Wasser unbrauchbar geworden.

Der Wärter schlug weiter mit seinem Knüppel gegen die Stäbe.

Ein junger Mann, etwas älter als Halima, hielt vorsichtig die Hand des Wächters fest und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der eingeschüchterten Frauen.

Ihre Blicke begegneten sich und er lächelte sie an.

„Seti, Seti“, sagte der Wärter immer wieder und noch vieles mehr, was Halima nicht verstand und schüttelte dabei unaufhörlich mit dem Kopf.

Er wurde in seinem Ton immer lauter, als er sich mit seinem jungen Kollegen unterhielt und ihn scheinbar zurechtwies.

Seti zog den Kopf ein und trollte sich.

Kurze Zeit später kam er mit einer Schachtel Zigaretten zurück und gab sie dem Hünen, der ihn um fast zwei Köpfe überragte.

Wieder sagte er: „Seti, Seti“, und überließ Seti die Wache.

Seti sah dem anderen nach, bis er verschwunden war und ging auf das Gitter zu.

Er winkte Halima zu: „Ich Seti. Ich euch helfen wollen“, sagte er gebrochen auf Syrisch.

Er zog mehrere Schokoriegel aus der Tasche und verteilte sie an die Frauen. Nur zögerlich nahmen sie die Riegel entgegen, aus Angst vielleicht vergiftet oder betäubt zu werden. Zu viel Schreckliches  war ihnen während ihrer Flucht widerfahren.

Halima schaute sich den jungen Mann mit den schwarzen Locken und dem leichten Bartflaum genauer an und glaubte, ihm vertrauen zu können. Er ähnelte stark ihrem Bruder. Vielleicht war das auch der Grund, für ihre Zuneigung.

„Wer du?“, fragte er und lächelte sie an. Ein echtes Lächeln.

„Halima“, antwortete sie verhalten.

Ihre Hände berührten sich und wie ein Stromstoß kribbelte es in ihren Fingerspitzen. Ihr war ganz wohlig dabei und Seti schien es genauso zu gehen.

Schritte kamen näher.

„Später“, sagte Seti und zog sich vom Gitter zurück.

Der Wärter sagte etwas zu Seti und von draußen kam der Lärm von nahenden LKWs.

 

Seti saß mit seinen Eltern am Frühstückstisch.

Stillschweigend aßen sie auf dem sonnigen Balkon.

„Ich will nicht, dass du Lehrer wirst. Lehrer haben kein großes Ansehen hier im Land. Ich will, dass du zum Militär gehst und dort eine Offizierslaufbahn einschlägst.“

„Aber das ist nicht das, was ich will“, sagte er ohne aufzuschauen. Seine beiden älteren Schwestern waren längst verheiratet. Er sollte die Familientradition fortführen. Sein Vater hatte auch gedient und war jetzt ein angesehener Beamter mit einem hohen Maß an Patriotismus.

Seine Mutter, Lehrerin; nach einem politischen Umschwung, jetzt im Ruhestand.

Sein Vater knallte seine Hand auf den Frühstückstisch, dass der Kaffee überschwappte.

Ein paar Tauben flogen verängstigt davon.

„Keine Widerrede!“, sagte er in lautem, bestimmten Ton. „Ich habe dich erst Mal hier im Jugendgefängnis als Wärter gemeldet, damit aus dir ein richtiger Mann werden kann, bevor du den Militärdienst antreten und deiner Familie Ehre bringen wirst.“

„Ja, Vater.“ Seti wusste, dass jegliche Gegenwehr sinnlos war.

 

Seti trieb zusammen mit seinem Vorgesetzten Turgay die Frauen auf den Hof hinaus.

Immer wieder setzte Turgay mit seinem Gewehrkolben nach, wenn auch nicht fest. Er wollte sich keinen Ärger einhandeln, weil er von den Männern beobachtet wurde, die auf der anderen Seite des Platzes zu den LKWs gedrängt wurden. Und eine Revolte konnte hier niemand gebrauchen.

 

Halima konnte ihren Vater und ihre Brüder sehen. Wie gerne hätte sie sie in die Arme genommen oder einfach nur zugewinkt, aber es war besser, unauffällig zu bleiben.

Alle Frauen und Mädchen mussten auf die Ladeflächen klettern.

 

Seti beobachtete, wie die kleinen Jungen von den Größeren getrennt wurden. Ein halbes Dutzend nur, aber sie kamen auf einen anderen LKW.

Er wandte sich an Turgay: „Warum werden sie getrennt?“

Der kratzte sich am Kinn: „Die werden zum nächsten Militärstützpunkt gebracht und dort an der Waffe ausgebildet. Können sich bald eh nicht mehr an ihre Familien erinnern. Die anderen kommen ins Flüchtlingslager, wie die Frauen.“

Seti wurde ganz flau im Magen. Er sah zu Halima hoch, die flehentlich zurückblickte.

„Willst du noch eine rauchen?“, fragte er Turgay.

„Warum nicht, du hast hier sicherlich alles fest im Griff.“ Er ging um die nächste Ecke und stand im Schatten eines Betonpfeilers, sodass ihn niemand sehen konnte.

Seti packte allen Mut zusammen und folgte ihm.

Gerade als Turgay einen tiefen Zug nahm, schlug Seti mit seinem Gewehr zu.

Turgay befühlte seinen Hinterkopf, sah das Blut an seinen Fingern und brach dann zusammen.

Seti zog den Bewusstlosen ganz in den Schatten und durchsuchte ihn. Er fand ein paar Päckchen Zigaretten und ging zu dem LKW mit den Jungen hinüber.

Dort verteilte er die Zigaretten an die Wärter: „Die sind von Turgay. Er sagt, er will nicht, dass das Pack für seine Sicherheit ausgebildet wird und ihm irgendwann in den Rücken fällt.“

Die Männer lachten laut, nahmen die Zigaretten und meinten: „Da hat er vollkommen Recht, keiner will das.“ Sie zogen die Kinder vom LKW herunter und brachten sie zu den Erwachsenen.

Halimas Vater schloss seine Söhne in die Arme.

Der LKW mit den Frauen fuhr los.

„Ich fahre hier mit und Sorge dafür, dass die keinen Unsinn unterwegs machen.“ Er klopfte auf sein Gewehr.

Die Männer drehten sich weg.

Seti sprang auf und schloss die Laderampe.

Auf der Fahrt zum Lager warf er seine Jacke und das Gewehr fort.

Er wollte weg von hier, mit Halima und ihrer Familie.

 

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