Von Ricarda Köhler

Wenn du die Erde verlässt, dann hinterlässt du etwas. Manchmal sind es Spuren, manchmal sind es tiefe Narben und manchmal hinterlässt du deine dich Liebenden, wenn du welche hast. Jedenfalls ist mir dies so ergangen bei all den vielen Menschen, die ich im Laufe meines Lebens verloren habe und dies waren bereits einige. Ich werde auch irgendwann gehen, wie jeder andere. Auch ich werde irgendwann den Horizont überschreiten und in meine grenzenlose Freiheit gehen, hoffe ich jedenfalls. Jetzt mal im Ernst, die letzten Jahre, vor allem das letzte Jahr, sind für mich kein Leben mehr, nur noch aneinandergereihte Tage, Stunden, die ich absitze. Aber wenn ich gehe, dann werde ich Geheimnisse hinterlassen. Viele Geheimnisse, aber wahrscheinlich wird es keiner merken, weil es eben Geheimnisse sind. Wie oft habe ich in meinem Leben gedacht, dass ich sie aufschreibe, damit sie nicht verloren gehen nach meinem Tod, allerdings, würde es jemandem was bringen, außer mir, vielleicht ein wenig Erleichterung? Ich hinterlasse dann tiefe Narben. Will ich das? Ich hätte mit der Aufdeckung der Geheimnisse früher in meinem Leben anfangen sollen, habe ich aber nicht. Und diese Erkenntnis kommt eben jetzt auch sehr spät. 

Vor einiger Zeit kam mein Enkelsohn mit so einem tragbaren Computer zu mir und sagte, ich solle meine Geschichten, die ich erlebt habe, da reintippen für die Nachwelt. Es würde auch eine Sprachfunktion geben, mit der ich die Sachen aufnehmen könne. Außerdem sagte er, der Computer könne alles finden: Namen, Adressen, Gesundheitsinfos, Gymnastikübungen, was auch immer ich wolle. Da habe ich ihn direkt gefragt:

„Wenn deine Sache doch so schlau ist, dann findest du auch meine Freundin Anna Bleeker.“

Und da suchte mein Enkel, tippte auf diesem Ding rum, und fand auch was, leider war es nur eine kleine Todesanzeige. Schade, ich hätte meiner früheren Freundin Anna gerne noch vergeben, weil ich fand, 50 Jahre ohne Kontakt reichen wirklich als Strafe aus, dafür, dass Anna auf dieser Feier damals mit meinem Mann, naja, muss ich ja nicht laut denken jetzt. 

Heute Morgen bin ich aufgewacht. Wie jeden Morgen seit 50 oder 60 Jahren, so genau kann ich es nicht mehr sagen, in dem selben Bett. Wie jeden Morgen seit vielen, vielen Jahren wache ich alleine auf und wie jeden Morgen seit einiger Zeit, vielleicht waren es jetzt sechs Jahre, denke ich:

„Irgendjemand hat mich hier vergessen, ich kann nicht genau sagen, wer oder was es ist, aber ich wurde schon wieder vergessen.“

Heute ist dieses Alleinsein wieder besonders schlimm, denn heute ist Montag. Montags kommt nie jemand vorbei. Montag habe ich immer nur mich und meine Gedanken. Dann sitze ich in meinem Lieblingssessel und führe Selbstgespräche, stundenlang. Fernsehen kann ich nicht mehr so gut, die Ohren und die Augen wollen nicht mehr. Lesen geht auch nur noch mit Lupe und das ist anstrengend. Vor einigen Jahren, so lange ist das noch gar nicht her, vielleicht acht oder doch schon 10 Jahre, da habe ich noch gestrickt und gelesen, viel gelesen, aber in den letzten Jahren ist vieles mühsam geworden. Und jetzt ist wieder Montag. Ich führe laut meine Selbstgespräche, weil sich dann meine Gedanken besser sortieren können, außerdem rostet die Stimme nicht ein. Ich will nicht wie eine alte Krähe klingen, wenn mich wieder jemand das nächste Mal besucht. Das nächste Mal? Dieses Jahr sind es viele Montage, auch die Dienstage, Mittwoche, Donnerstage, eigentlich fast alle Tage wurden immer häufiger zu Montagen. Keiner kommt, keiner holt mich ab für einen Ausflug, höchstens mal ein Telefonat. Ich sitze also da und spreche mit mir höchstpersönlich. Auf dem kleinen Tischchen neben dem Sessel liegt dieses tragbare Ding von meinem Enkel. Die Sprachfunktion hat er mir gezeigt und wie fast jeden Montag überlege ich, ob ich diese nutzen sollte, um meine Geheimnisse zu erzählen. Eigentlich dachte ich, dass ich auch einige Dinge aufgenommen habe, aber ich habe es nicht mehr wiedergefunden, also, kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. 

Einmal sagte ich zu meiner Tochter, dass mich hier einer vergessen hat, sie meinte daraufhin:

„Mama, es hat einen Grund, warum du hier bist! Alles im Leben hat einen Grund, warum es passiert und auch warum Dinge eben nicht passieren.“

„Dann sag mir doch meine Aufgabe, damit ich sie endlich zu Ende bringen kann.“

„Das kann ich nicht, das musst du selbst rausfinden!“, war die Antwort meiner Tochter.

Aber ich habe meine Aufgabe nicht gefunden. Manchmal denke ich, meine Geheimnisse sind meine Aufgabe. 

Eigentlich müsste ich dankbar sein, denn es geht mir doch recht gut. Ich kann noch gehen und wohne nicht in einem Heim, wie die meisten meiner noch lebenden Freunde, sondern in meiner kleinen Wohnung. Trotzdem, ich sehe einfach keinen Sinn darin, mit 98 Jahren noch zu leben. Ich sag es ganz offen, denn es ist einfach nicht gerecht. 

Mein Sohn ist mit 50 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, da war ich schon fast 80 Jahre alt. Ist das gerecht? Stefan hätte sicherlich gerne seine Enkelkinder gesehen und mit ihnen gespielt. Fußball zum Beispiel. Stefan war doch immer so ein großer Fußballer und dann stirbt er viel zu früh. Ein halbes Jahr vor der Geburt seines 1. Enkelkindes. Inzwischen bin ich vierfache Uroma. Wenn ich so weitermache, dann werde ich vielleicht noch Ururoma! Nicht schlecht, aber gerecht?

Während ich meinen Sohn schon beerdigen musste und viele meiner Freunde gestorben sind oder den Verstand verloren haben, lebe ich immer noch fröhlich vor mich hin. Mein Mann ist vielen, vielen Jahren gestorben. Damals war ich ja noch jung und ich dachte, ich nehme mir noch einen Mann für den Lebensabend, wäre doch ganz nett. Aber irgendwie hat es sich dann doch nicht ergeben. Einige Männer kamen und gingen zwar noch, aber mit Herbert, das war irgendwie anders. Die ersten Jahre nach seinem Tod habe ich die Zeit sogar ein wenig genossen, das habe ich natürlich keinem erzählt, ist also auch eines meiner kleinen Geheimnisse. Aber es war doch schön alleine zu leben. Doch dann dachte ich immer öfter: Nun reicht es wirklich, kann mich hier mal jemand abholen? Manchmal werde ich richtig wütend auf Herbert, dass der all diese Trauer nicht miterleben musste, dass er nicht diese Einsamkeit fühlen musste, die ich jeden Tag habe. Er lebt bestimmt in einer grenzenlosen Freiheit, wo auch immer er ist. Vielleicht ist Stefan auch dabei? Wenn ich dazu komme, spielen wir eine Runde Skat, das würde mir gefallen.

Stefan hätte ich mein eines Geheimnis gerne vor meinem Tod erzählt, aber dann kam es ja doch ganz anders und ich glaube kaum, dass seine Ehefrau es wirklich interessieren wird, dass Stefan eigentlich Peters Sohn ist. Peter ist mein Schwager, also der Mann meiner Schwester. Dies hätte ich dann auch gerne Marie, meiner Schwester, gebeichtet. Aber Peter ist jetzt auch schon über 20 Jahre tot und Marie folgte gleich kurze Zeit später. Was soll ich sagen, irgendwie habe ich meine Chance verpasst und das Geheimnis bleibt bei mir. Oder sollte ich es der Sprachfunktion anvertrauen? Marie kam einige Monate vor ihrem Tod zu mir und erzählte mir unter Tränen, dass sie damals bei Peters Herzinfarkt nicht direkt den Krankenwagen bestellt hätte. Irgendwie dachte sie wohl, er übertreibt maßlos und dann, eine Stunde später ist er tot. Maries Geheimnis wurde damit zu meinem, aber ich brachte es nicht übers Herz, ihr auch noch mein Geheimnis zu beichten. 

Marie und ich sprachen auch nie über unser gemeinsames Geheimnis und wir werden es jetzt wohl beide mitnehmen. Ich war vielleicht 10 Jahre alt und Marie 12, als es anfing. Mein Vater bekam immer öfter Besuch von jungen Männern, das waren keine Skatfreunde, sondern die kamen einzeln zu ihm und blieben oft in seiner kleinen Werkstatt über Nacht. Meine Mutter wusste es, aber sprach nicht mit uns darüber. Keiner tat das, wir auch nicht. Nur im Dorf sprach man, aber da hörte ich weg. 

Herbert, mein Mann, der konnte sich auch bei mir erleichtern. Zwei Tage vor seinem Tod hielt er mich an meiner Hand, ich dachte, er wollte mich einfach nur bei sich haben, weil es ihm schlecht ging. Aber er wollte quasi seine Beichte bei mir abgeben. Eigentlich wollte ich dies gar nicht hören, aber er erzählte es mir trotzdem. Zuerst nur die Sache mit Anna, aber die wusste ich ja schon, und dann die Sache im Krieg. Er hat mir erzählt, wie er auch Frauen und Kinder erschossen hat. Unter Tränen hat er mir das erzählt, aber lebendig sind die Menschen natürlich dadurch nicht mehr geworden. Er wäre damals so froh gewesen, dass er verletzt wurde und nicht mehr kämpfen konnte. Die Gesichter der Toten haben ihn bis zu seinem Tod verfolgt. Ich fand zu diesem Zeitpunkt, das wäre Strafe genug und er war ja auch erst Mitte zwanzig und hatte eben auch Angst. Aber dann hat er erzählt, er hätte auch vergewaltigt. Da musste ich aufstehen und mich übergeben. Herbert wusste, als einer der wenigen, von meinen schrecklichen Erlebnissen in meiner Jugendzeit und dass er mir dann das erzählt, konnte ich nicht ertragen. Er hat bei mir tiefe Narben hinterlassen. Ich konnte meinem Herbert nicht mehr in die Augen sehen, bis zu seinem Tod. Jetzt stehe ich mit seinem Geheimnis hier und sein Geheimnis ist zu meinem geworden. Müssen das die Enkelkinder und seine Tochter erfahren? 

In Gedanken schreibe ich einen Spruch aus Irland auf meinen Notizzettel:

Was wir nicht wissen sollen, das sollen wir nicht wissen wollen. 

Manche Menschen hinterlassen Spuren, manche tiefe Narben und ich hinterlasse eben Geheimnisse.

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