Von Peter Burkhard

Ralf konnte die schreckliche Nachricht in der Lokalzeitung nicht mehr lesen, denn er war bereits tot.

 

Tödliche Begegnung

«Am Montagmorgen entdeckte ein Passant, unweit des zoologischen Gartens, eine zirka 25- bis 30-jährige männliche Leiche mit schwersten Bissverletzungen. Nach ersten Erkenntnissen der Polizei muss davon ausgegangen werden, dass der Mann von einem oder mehreren Tieren so massiv attackiert wurde, dass er darauf seinen Verletzungen erlag. Die Polizei ermittelt und wird die Öffentlichkeit schnellstmöglich über den Sachverhalt informieren. Sachdienliche Hinweise sind zu richten an die nächste Polizeidienststelle.»

 

Ralf wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. Er stand am Fenster und starrte über die dunklen Dächer der Stadt ins Leere. Seine Mutter räumte das Verbandszeug weg, mit dem sie die blutende Schramme an der Stirn ihres Sohnes versorgt hatte.

„Ich gehe morgen nicht zur Schule.“

„Wie kommst du denn da drauf?“ Sie schloss den Wandschrank.

„Weil ich mich schäme.“

„Das brauchst du nicht, denk daran, was Papa gesagt hat.“

Der Junge wandte sich ihr zu: „Was soll er denn gesagt haben?“

„Dass an einer kleinen Rauferei nichts auszusetzen sei und dies in deinem Alter einfach dazu gehöre. Glaub es doch endlich, junger Mann, du bist nicht anders als alle andern Kinder im Quartier.“

In diesem Punkt irrte die Mutter.

Wenige Tage nach seinem zwölften Geburtstag sah Ralf einen kleinen Knirps, der in einem reissenden Bach zu ertrinken drohte. Der Dreikäsehoch war über eine rutschige Uferböschung halbwegs ins Wasser geschlittert, doch zum Glück hatte er sich in ein paar Ästen verfangen und wehrte sich nun verzweifelt gegen die starke Strömung. Er schrie und jammerte, doch seine kläglichen Hilferufe gingen im Rauschen des Baches unter. Seine Mutter, mit ihrem zweiten Kind beschäftigt, war abgelenkt und bemerkte die Not ihres Jungen nicht. Ralf aber wurde auf ihn aufmerksam, er liess sein Fahrrad fallen und rannte stracks zur Unfallstelle.

„Halte dich fest, ich komme! Nicht loslassen und zieh die Beine an!“ Der Kleine begriff, dass Rettung nahte, er hörte auf zu schreien und klammerte sich noch fester an den schwankenden Ast, der unter der Wucht der Wassermassen zu brechen drohte. Zu seinem Entsetzen erkannte Ralf, dass er über den steilen Abhang nicht an den Knaben rankam. Da war zwar noch eine kurze Treppe, die zum Wasser hinunterführte, an deren Ende jedoch verwehrten dicke Eisenstäbe ein Weiterkommen. Trotzdem sprang er die paar Stufen hinunter, suchte nach einer Möglichkeit das schwere Gitter zu überwinden und riss mit aller Gewalt an den Stäben. Da gaben diese nach und verbogen sich, einfach so. Völlig verdutzt, jedoch ohne zu zögern, schlüpfte der flinke Helfer durch die Öffnung, hechtete zur Unglücksstelle und packte den wimmernden Knaben am Arm. Dann zog er ihn unter Aufbietung seiner letzten Kräfte auf sicheren Boden. 

Ralf sollte nie erfahren, wie die Mutter reagiert hatte, als ihr Spross, klitschnass, verdreckt und mit dem Schreck noch in den Knochen, vor ihr gestanden hatte. Der junge Lebensretter ergriff sein Rad und verliess den Ort des Geschehens schnell und ohne Aufheben, damit ihm niemand unbequeme Fragen stellen konnte. Fragen, die ihn selbst noch lange beschäftigen sollten: „Wie um Himmels Willen konnte ich diese Stäbe verbiegen? Warum hatte ich in dieser Situation solche unmenschlichen Kräfte?“ Unzählige Male sann er seiner Heldentat nach und versuchte seine neu gewonnenen Fähigkeiten einzuordnen. Er, scheinbar ein Junge wie jeder andere, verfügte über eine Gabe, von der er nichts geahnt hatte. Um sicherzugehen, dass alles nicht nur geträumt war, versuchte sich Ralf an weiteren Gittern, Geländern und massiven Verstrebungen. Jedes Mal war es für ihn unerklärbar leicht, die Stäbe zu verformen. Umso schwerer fiel es ihm, über seine Veranlagung zu schweigen. Aber er sprach mit niemandem darüber, nie sollte jemand davon erfahren.

Kaum volljährig, verliess Ralf sein Elternhaus. Er lebte fortan in einer Dreier-Wohngemeinschaft in einem winzigen Zimmer, studierte Biologie und wurde finanziell unterstützt von seinen Eltern, so gut es eben ging. Einmal in der Woche sah man ihn mit Kollegen im bekanntesten Stehimbiss der Stadt, bei Currywurst und Bier.

Als einer der Mitbewohner die Gemeinschaft verliess, zog Carmen ein und brachte Ralfs kleine Welt ins Wanken.

„Was hast du da?“

„Wonach sieht es denn aus?“ Ralf hielt ihr das rohe Schnitzel vors Gesicht.

„Lass das du Ignorant. Ich versteh nicht, dass du Fleisch isst, Fleischkonsum ist ungesund und macht vieles kaputt.“

„Kaputt? Was denn?“

„Alles, der Konsum von Fleisch verursacht unbeschreibliches Tierleid. Er ist verantwortlich für den Hunger in der Welt, er ist schuld am Klimawandel, am Wassermangel, jetzt …“, sie holte mit der Hand aus, als wollte sie ihn schlagen, „tu endlich das elende Stück Fleisch weg!“

„Ok, ok, ich hab’s gehört.“

„Für das Futter der Tiere werden ganze Regenwälder …“

„Carmen!“ Ralf unterbrach sie gereizt: „Ich habe es vernommen und begriffen, und ich akzeptiere deine

Ansichten, aber …“

„Nichts aber, lass deine Finger von Fleisch, oder du bekommst Probleme mit mir!“

Derlei Streite häuften sich. 

Es war an einem Samstag, als Carmen gegen Mittag die Wohnung betrat. Sie schien geladen, schmiss ihre Tasche auf den Esszimmertisch und stürmte grusslos in die Küche. Ralfs Zimmertür stand offen. Er lag auf seinem Bett, liess das Buch sinken und schaute ihr nach.

„Was ist?“

„Welchem Idiot gehört dieser fahrbare Untersatz vor dem Haus?“ 

Jetzt stand sie im Türrahmen, ein Glas Wasser in der Hand und kickte ihre Sandalen in den Flur.

„Keine Ahnung, wovon sprichst du?“

„Von diesem schwarzen E-Bike an der Hauswand beim Flieder.“

„Mmh“, er zögerte kurz …

Im nachfolgenden Disput erstarb Ralfs letzter Funke Selbstachtung. Und Holger, dem Dritte im Bunde, wurde es endgültig zu viel: „Ich werde mir so schnell es geht etwas Neues suchen. Da kann ich dann in Ruhe essen was mir passt und lesen was ich will. Ist ja nicht mehr auszuhalten hier!“

Es kam noch schlimmer: Ralf verliebte sich in Carmen, und sie liess ihn gewähren. Sie gab ihm was es brauchte, um seine Leidenschaft und das Feuer seiner Wünsche am Leben zu halten, nicht mehr und nicht weniger. Sie spielte ein durchtriebenes Spiel, in dem er von Anfang an als Verlierer feststand.

Unnachgiebig prangerte Ralfs Angebetete alles an, was nicht in ihr Weltbild passte: „Zum Teufel mit diesen Zoohandlungen und all den Tierparks, man müsste sie alle zerstören! Warum nur spielt sich der Mensch als Herrscher über die Tiere auf und springt mit ihnen nach Belieben um? Es kommt der Tag, an dem ich den nächstbesten Schlachthof eigenhändig in die Luft sprenge. Lach nicht, du Idiot!“

„Ich lache nicht“, erwiderte er und presste die Lippen mit aller Kraft zusammen. Aller Ernsthaftigkeit zum Trotz amüsierte es ihn, wenn sie so in Rage geriet, aber er wusste es zu seinem Selbstschutz zu verbergen. 

Ralf entschloss sich zu handeln. Er brach in Tierhandlungen ein, beschädigte Käfige und befreite die Tiere, davon überzeugt ihnen Gutes zu tun. Carmen dankte es ihm auf ihre Weise. Befeuert durch ihre Anerkennung wurden seine Aktionen immer gewagter und die Mittel, zu denen er griff immer drastischer. Meist agierte er allein, unbeirrt und ohne Angst. Nur selten begleitete ihn seine unselige Schicksalsbraut auf den Touren durch die schwach beleuchteten Strassen, wo sie provozierende Parolen an Wände sprayten und verlassene Bushaltestellen mit selbstgefertigten Plakaten verklebten. 

Als der Nationalzirkus in der Stadt gastierte, plante Carmen ihren bisher grössten Coup. „Lass uns zuerst die Verhältnisse auskundschaften und wenn wir wissen wie, dann schlagen wir zu. Jetzt ist der Zirkus endgültig dran, nie wieder sollen Tiere in eine Arena einlaufen müssen! Nie wieder!“ Sie schäumte und war euphorisch zugleich. Am folgenden Nachmittag mengten sich die beiden unter die Besucher inmitten der Zirkus-Tiergehege, in denen die einen Tiere ungeduldig und nervös an ihren Ketten zerrten, während andere stumpf auf ihren Auftritt warteten. Beim Anblick der massiven Gitterstäbe, erinnerte sich Ralf an seine über Jahre geheimgehaltenen Kräfte und er beschloss, seine Geliebte in das lang gehütete Geheimnis einzuweihen. 

Doch es sollte nicht mehr dazu kommen. Carmen brach sich beim Volleyballspiel den rechten Knöchel und fiel völlig niedergeschlagen für die geplante Zirkusaktion aus. Anstatt sich über wild gewordene Elefanten und weglaufende Zirkuspferde zu ereifern, googelte sie sich durch Berichte über Tierquälereien und las „Hundert Gedichte“ von Rainer Maria Rilke.

Ralf verwarf die Idee den Zirkus zu ruinieren, doch tatenlos blieb er nicht. Es war spätabends, Carmen schlief bereits, als er über den aufgeschlagenen Gedichtband stolperte und die wunderbaren Zeilen entdeckte: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält …“

Er erschauderte.

Waren diese packenden Worte, dieses erschütternde Bild der gebrochenen Kreatur, Zeichen des Himmels oder gar ein versteckter Wink Carmens? Es erschien ihm nicht wichtig und er zögerte keinen Moment, sein Entschluss stand fest. 

In der Nacht auf Montag brach er in den Zoo ein, fest entschlossen bis zum Äussersten zu gehen. Gespenstisch lösten sich die spärlich beleuchteten Tierbehausungen aus dem Bodennebel, eine nach der andern. Verborgene Tiere schienen ihn wahrzunehmen und machten sich aus dem Dunkel bemerkbar. Flüsternd nur sprach er ihnen Mut zu: „Mach ich euch Angst? Ihr braucht keine Angst zu haben, ich tu’s für euch und für Carmen! Nie wieder, Carmen, sollst du an meiner grenzenlosen Entschlossenheit zweifeln, dir und deinen Ideen zu dienen.“  

 

Zwei Tage später fand die Polizei die vermisste schwarze Pantherin, hungernd und völlig verängstigt. Sie hielt sich in einem Dickicht versteckt, nahe der Stelle, wo ein Spaziergänger am Montagmorgen eine männliche Leiche gefunden hatte. 

Ein Polizist rapportierte daraufhin per Funk: „Einsatzabbruch, Bestie erledigt.“

 

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