Von Monika Heil

Lieber Kummerkastenonkel,

ich heiße Olli und bin sechs Jahre alt. Ich habe meine Mama gebeten, Dir diesen Brief zu schreiben, weil, ich kann noch nicht schreiben. Meine Mama hat mir versprochen, alles so aufzuschreiben, wie ich es ihr sage, weil, ich kann auch noch nicht lesen.

Wenn Deine Sendung kommt, schlafe ich schon. Mama und Papa haben aber oft von Dir geredet und deshalb weiß ich, dass man Dir Kummer erzählen darf.

Also: Nächsten Monat ist Weihnachten und ich habe Angst, dass wegen diesem Stachelding, das aussieht wie eine große rote Kastanie, der Weihnachtsmann in diesem Jahr nicht kommen darf. Dass Oma und Opa, die in Bayern wohnen, nicht kommen können, ist nicht so schlimm, weil Oma mir immer durch die Haare wuschelt, was ich nicht leiden kann und weil Opa immer so Stinkezigarren raucht, was Mama auch nicht leiden kann.

Ich weiß, dass der Weihnachtsmann in Schweden bei seinen Renntieren wohnt. Das hat mir meine Mama aus einem Buch vorgelesen. Und weil jetzt wegen diesem Voronadingsbums die Grenzen zu sind, kann er nicht nach Deutschland. Und ich wünsche mir doch so dringend ein neues Playmobil und einen Legobaukasten und noch viel mehr.

Ich habe Mama gefragt, ob sie nicht an die Frau Merkel schreiben kann, die ist doch so was ähnliches wie die deutsche Königin. Und die kennt doch bestimmt die schwedische Königin, weil die ist ja auch so was wie eine Deutsche. Aber Mama meinte, ich sollte lieber an Dich schreiben. Mama sagt, Du hast mal in einer Sendung erzählt, dass Du ein Haus in Schweden hast. Vielleicht kennst Du die Königin in Schweden und kannst mit der reden, dass sie dem Weihnachtsmann erlaubt, auch nach Deutschland zu kommen. Ich wohne in Hamburg. Das ist ja nicht so weit weg.

Mein großer Bruder meint, das sind alles feknuus. Weil ich nicht weiß, was das ist, habe ich nichts dazu gesagt und ihm nur vors Schienbein getreten.

Also, kannst Du mir helfen? Meine Mama hört immer Deine Sendung. Die sagt mir dann Bescheid.

Tschüss, dein Olli.

 

  1. November 2020

»Das hast du toll und absolut kindgerecht geschrieben, Daniel. Und Olli hast du den angeblichen Briefschreiber nach deinem kleinen Nachbarjungen benannt, stimmt´s?»

»Genau. Gefällt´s dir?«

»Super. Ich sag´ ja immer, deine Phantasie ist grenzenlos, mein Sohn.«

»Von wem ich das wohl habe?«

»Hast du auch schon einen Antwortbrief fertig?«

»Brauche ich bestimmt nicht. Ich bin sicher, da kommt massenweise Post. Und den schönsten werde ich dann in meiner Sendung vorlesen.«

»Entschuldigung.« Schnell zog Veronika ihre Hand zurück, mit der sie ihrem Sohn durch sein inzwischen schon recht schütteres Haar gewuschelt hatte. »Möchtest du noch eine Tasse Kaffee bevor du ins Funkhaus fährst?«

»Danke, gern. Dann muss ich aber bald los.«

 

  1. Dezember 2020

»Hallo Mama, hast du meine Sendung gestern Abend gehört?«

»Na klar, mein Junge. Auch die wunderschöne Antwort von dieser Ika Lieh. Ist der Brief echt?«

»Von der ersten bis zur letzten Zeile. Ich habe die Dame angerufen und mich sehr nett mit ihr unterhalten.«

»Und die wohnt wirklich in Schweden?«

»Ja, stell´ dir vor, Frau Lieh wohnt sogar ganz in der Nähe von unserem Sommerhaus.«

»Ach Junge, wie gern würde ich mal wieder nach Schweden fahren. Corona ist einfach Scheiße.«

»Scheiße sagt man nicht, Mama.«

Mutter und Sohn lachten beide über ihren in Jahrzehnten abgenutzten kurzen Dialog.

»Ich finde es richtig romantisch, wie sie dem kleinen Olli Hoffnung macht, seine Weihnachtsgeschenke doch noch zu bekommen. Das mit den Trollen und Elfen, die dem Weihnachtsmann helfen, die Geschenke auszusuchen und zu verpacken, finde ich richtig süß. Und die Idee mit dem Weihnachtsengel, der so hoch über den Wolken fliegt, dass das Virus ihn nicht entdecken kann, finde ich entzückend.«

»Sehe ich auch so. Ich habe die Dame inzwischen per Skype kennengelernt und finde nicht nur ihren Brief entzückend.«

»So,so. Was ist heute Abend das Thema in deiner Sendung?«

»Corona, wie so oft. Diesmal mit einfachen Rezepten für Weihnachtsessen. Tschüss Mama. Ich rufe morgen wieder an. Bleib´ vorsichtig.«

»Du auch, mein Junge. Bleib optimistisch.«

 

  1. Juli 2021

»Schön, dich zu sehen, Daniel. Heute gibt es keinen Kaffee. Heute gibt es zur Feier des Tages Sekt.«

»Gute Idee, Mama. Ja, wer hätte das gedacht, dass nun doch alles so schnell und glimpflich abging. Du bist inzwischen geimpft?«

»Bin ich. Und du?«

»Morgen gibt es im Sender eine freiwillige Reihenimpfung.«

»Das klingt gut.«

»Ich habe mir überlegt, jetzt, wo die Grenzen wieder offen sind, könnten wir vielleicht mal in unser Ferienhaus nach Schweden fahren? Was meinst du?«

»Ja, das wäre schön, nur befürchte ich, das wird Staus ohne Ende geben. Lass uns noch ein bisschen warten.«

»Ich will aber nicht mehr warten, denn, weißt du, Mama, Ika und ich wollen uns endlich persönlich kennenlernen.«

Veronika spürte, wie sich der Tonfall ihres Sohnes veränderte.

»Wie schön, mein Junge.« Liebevoll strich sie über seine grauen Stoppelhaare.

»Mama, ich bin fünfzig und nicht fünf!«, wehrte er die Geste ab.

»Entschuldige. Ich weiß. Und diese Ika ist fünfundvierzig und Schwedin und Witwe und Kinderbuchautorin und sehr nett.«

»Genau, Mama. Und wir werden uns in Zukunft bestimmt öfters sehen, denn Ika hatte die Idee, aus dem Weihnachtsbrief des kleinen Olli ein Kinderbuch zu machen und wegen der Urheberrechte und so …«

»Genau mein Kleiner, und wegen dem ´und so` fährst du jetzt erst mal allein.«

»Ach Mama, ich liebe dich.«

»Du mich auch, mein Sohn. Zum Wohl und auf eine bessere Zukunft.«

 

  1. August 2021

Ach, das ist eine andere Geschichte.

 

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