Von Winfried Dittrich

„Paul, bist du im Auto? Bist du schon zu uns unterwegs?“

„Ja, Mama. Was gibt es? Soll ich noch etwas mitbringen? Ich kann noch beim Winzer vorbeifahren. Und dann bin ich in vier Stunden da.“

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Mama? Was ist denn?“

„Waldemar hat dich ausgeladen. Sie wollen dich am heiligen Abend nicht dabei haben.“

„Was ist denn jetzt schon wieder passiert?“

„Sie haben heute das Paket ausgepackt. Das Paket, das Olli hier abgegeben hat. Mit der Krippe, die du den Kindern zu Weihnachten schenken wolltest.“

„Was ist damit? Gibt es daran auch wieder etwas auszusetzen? Waldemar ist echt schwierig und nachtragend.“

„Du hast schon das Kommunionsfest in diesem Jahr gesprengt. Und jetzt auch noch Weihnachten.“

„Mama, ich kann nichts dafür, dass sich die Kinder im Frühjahr ihre weiße Festkleidung mit Fingerfarbe beschmiert haben. Dafür hatte ich sie ihnen nicht geschenkt!“

„Aber jetzt kannst du etwas dafür, was da in dem Paket war.“ Als meine Mutter auflegte, glaubte ich, Herbert Grönemeyer singen gehört zu haben. Aber da musste ich mich geirrt haben. Ich kehrte um, fuhr nach Hause und verbrachte die Feiertage alleine. War wohl besser so.

Und es stellte den Abschluss eines an sich schon bescheidenen Jahres dar. Meine Familie schloss mich erneut von einem Hochfest aus. Warum? Darüber konnte ich während der einsamen Feiertage ausgiebig nachdenken. Wahrscheinlich wegen Olli, meinem verpeilten Freund aus Schulzeiten, der noch immer in meiner Heimatstadt lebt. Ein Lebenskünstler, der seine Frau arbeiten lässt, damit er genug Zeit zum Schreiben hat. Oder dafür, seinen Freunden zu helfen.

Ich hatte in der Vorweihnachtszeit keine Gelegenheit, einkaufen zu gehen, war ziemlich busy. Wenn man mit Mitte dreißig als Personaler schon zur Werksleitung gehört, dann muss man reinklotzen. Also sendete ich Olli eine Textnachricht, in der ich ihn um Hilfe bat, eine neue Krippe zu kaufen und bei meinem mehrfach bekinderten Bruder Waldemar abzugeben.

Waldemar war es leid, dass die Kinder die selbstgeschnitzten, über siebzig Jahre alten Krippenfiguren unseres verstorbenen Vaters in dem etwa gleichalten Krippenstall bespielten. Diese Kostbarkeiten sollten ja mindestens noch einmal siebzig Jahre halten.

Also wurde ich irgendwann mit der weihnachtlichen Geschenkanforderung konfrontiert, ein bespielbares Exemplar zu erwerben und der Familie zu schenken. Mit fünfhundert Euro für einen Krippenstall samt Belegschaft musste ich wohl rechnen, wenn ich wenigstens der Anforderung „nachhaltiges Bio-Holz“ gerecht werden wollte. Aber das war ok für mich.

Als Spezialist für Human Resources habe ich viel mit dem Thema Diversity zu tun, also mit den vielfältigen Lebensformen, -identitäten, -anschauungen und -modellen, die in unserer Gesellschaft existieren. Mein Handy war deswegen auch mit jenem Begriff vertraut. Und so machte die eigentlich hoch entwickelte Spracherkennung bei der in aufkommender Zeitnot verfassten Textnachricht wohl aus einem „diverses Zubehör“ ein „Diversity Zubehör“ oder so ähnlich. Und Olli, der das Wort „plausibel“ wohl noch nie gehört zu haben scheint, nahm es einfach so hin und kaufte etwas, das mir mein Bruder Waldemar dann nach Weihnachten zusammen mit einem Wutbrief zurückschickte. Den Wortlaut des Briefes kann ich hier aus Gründen der Sittlichkeit nicht wiedergeben. Der übrige Inhalt des Paketes war dann aber das, was Olli unter einer modernen, „divers“ aufgestellten, vielfältigen Krippenlandschaft versteht. Es entpuppte sich als biblisch-gesellschaftlicher Rundumschlag.

Der Krippenstall war ein modular aufgebautes Holzgebilde, das, laut Beipackzettel, im Kinderzimmer ganzjährig als Bauernhof oder Garage zum Unterstellen eines ganz bestimmten Spielzeugwohnmobils verwendet werden konnte. Auf dem Schrägdach waren Solarpanele installiert, die, gekoppelt mit einem Akku, die Innenbeleuchtung, in der Weihnachtszeit auch den Weihnachtsstern speisen sollten. Oder eine Miniatur-Wallbox für ein Spielzeugelektroauto zum Nachspielen der Mobilitätswende. Farblich war der Krippenstall an die Villa Kunterbunt angelehnt. Das hätte meinem Bruder, vor allem aber seiner Frau gefallen sollen, dachte ich. An der Tür hing ein kleine Schild mit der Aufschrift „Hotel Garni“, im Innenraum ein kleines Kreuz – prophetisch.

Die dazu gehörende Belegschaft hatte es dann schon mehr in sich. Statt der obligatorischen Schafsherde war nur ein einziges Schaf vorhanden, zu dem sich ein weihnachtlich anmutendes Rentier, zwei Alpakas, eine Giraffe, ein Stinktier, ein Koalabär und ein Katta gesellten. Mindestens ein Tier von jedem Kontinent, dachte ich. Es erinnerte mich auch irgendwie an die Arche Noah.

An Vegetation fand ich neben dem Moos – ohne Moos ist auch im Krippenstall nichts los – Palmen, Christbäume, einen brennenden Dornbusch und einen Baum vor, von dem eine Schlange herunter hing.  Und Schnuller, wie ich zuerst dachte, aber es waren Äpfel.

Außerdem enthielt das Sortiment einen Busch, in dem sich ein nackter Mann und eine nackte Frau versteckten – paradiesische Zustände. Aber nur bei diesem Teil des Personals. Die übrigen Gestalten spiegelten eher reale Bereiche unserer Welt wieder.

Neben einem normalen Hirten, der zur Krippe gekommen war, fand ich zwei weitere Stücke vor. Sie waren mehr Szene als Figur. Die Erste war ein Getränkebote, der aussah wie der Weihnachtsmann und kistenweise schwarze Brause darbrachte. Die Zweite bestand aus einem dunkelbärtigen Auslieferungsfahrer mit grell-gelber Warnweste, der gerade aus seinem rundherum verbeulten, mit eingeschalteter Warnblinkanlage neben einem Halteverbotsschild geparkten Lieferwagen ausstieg, um Geschenke abzugeben – natürlich beim Nachbarn …

Der war gerade auch nicht zu Hause oder überhaupt nur in der Gegend. Dafür fanden sich die drei Weisen aus dem Morgenland ganz unten im Karton. Neben dem Nutzfahrzeug waren sie die drei einzigen batteriebetrieben Schmuckstücke, die zudem nicht aus Holz bestanden. Eine Martin-Luther-King-Figur, die auf Knopfdruck „I have a dream…“ sagte. Außerdem eine verschleierte, weibliche Figur mit interessantem Haarschnitt und Merkelraute, die ein stoisches „Wir schaffen das“ abspielen konnte. Das Highlight war aber eine Figur in Frauenkleidern, die aussah wie Herbert Grönemeyer. Wenn man die drückte, fing sie an „Wann ist ein Mann ein Mann“ zu singen.

Ich dachte mir, wir leben in einer aufgeklärten Welt. War doch interessant, was da in dem Paket enthalten war. So weltoffen sollte doch mein Bruder, der Religionslehrer und Ehemann einer Gemeindereferentin, sein. Doch als ich die heilige Familie auspackte, da wurde mir klar, warum ich, beziehungsweise Ollis Idee, verstoßen worden war.

Das kleine, in Windeln gewickelte und in einer Futterkrippe abgelegte Kind sollte nicht vom warmen Atem eines Ochsen und eines Esels, sondern vom Atem zweier regenbogenbemähnter Einhörner gewärmt werden, zu denen sich Maria, die Mama, und Marie, die Mami sowie Jupp, der scheinbare Erzeuger, gesellten, der wiederum ein Regenbogenshirt mit dem Aufdruck „It’s a girl!“ trug.

Die Krippenlandschaft steht mittlerweile im Konferenzraum neben meinem Büro, wo nach dem Jahreswechsel die Kick-off-Veranstaltung unseres neuen Diversity-Projektes stattfinden wird. Nur eine Figur habe ich noch besorgt. Einen weiß gekleideten Herren mit roten Schuhen habe ich noch dazugestellt. Noch einen Hirten, quasi. Denn die Vielfalt auf dieser Welt ist praktisch grenzenlos, und diese Fraktion fehlte irgendwie.

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