Von Johannes Schmid

Wenn die ersten Fähren aus dem Süden kommen, steht alles schon bereit. Wiesen mit sauber gebürstetem Gras, Seen mit blankpolierten Oberflächen und Wälder mit frisch gespitzten Tannennadeln begleiten die Urlauber auf dem Weg nach Norden. Die „Ahs“ und „Ohs“ hinter den Scheiben der fahrenden Wagen wechseln im Rhythmus der Farben, mit denen die Häuschen am Wegesrand gestrichen sind. Mal blau und rot, dann wieder gelb und grün.

Was keiner weiß: Kaum, dass die Touristen um die Ecke gebogen sind, wird eingepackt und weitergezogen.

Schweden ist ein gastfreundliches Land, in dem jedes Jahr Tausende von urlaubsuchenden Menschen ihren Sommer verbringen. Den Skandinaviern würde es niemals in den Sinn kommen, den Gästen ihr schönes Bild vom Norden zu vermiesen – auch wenn es hier in Wirklichkeit ganz anders aussieht und es das, weswegen alle so gerne kommen, eigentlich gar nicht gibt.

Jahrelang haben die Schweden versucht, ihren Gästen Zubehör für ein nordisches Zuhause zu verkaufen, damit sie deswegen nicht extra herfahren müssen. Doch abgesehen von den Einrichtungsgegenständen für ihre Häuser, die sie gerne erwerben, haben sie sich bis heute standhaft geweigert, das Angebot auch außerhalb der vier Wände anzunehmen und kommen lieber jeden Sommer wieder.

Damit es zu keinen Enttäuschungen kommt und alles so aussieht wie gewünscht, haben die Schweden große Depots mit allen nur erdenklichen Utensilien an den Fährhäfen errichtet, die bereits vor der Ankunft der Gäste zur Ausstattung der Landschaften an die zuständigen Betreuer ausgegeben werden. Jedes Auto, das von der Fähre fährt, bekommt ein Team zugeteilt, das aus drei Mannschaften besteht, und das die Gäste den gesamten Urlaub über begleitet. Während die erste Gruppe im Hafen bereits frisch geteerte Straßen zum Empfang ausgerollt hat, die die Urlauber auf direktem Weg ins Landesinnere bringen, arbeitet die zweite Mannschaft hinter der nächsten Kurve schon an der ersten Aussicht. Wenn der Wagen mit den Urlaubern dort ankommt, stehen alle Bestandteile für eine perfekte Landschaftsansicht ordentlich aufgereiht am Straßenrand. Damit der Aufwand für die immer wiederkehrenden Ansichten nicht zu groß wird, werden die Landschaften, kaum dass die Touristen daran vorbeigefahren sind, von der dritten Mannschaft sofort wieder abgebaut, von da aus zum nächsten Ort gebracht, an dem das Auto in Kürze vorbeikommen wird, und dort wieder aufgestellt.

Da die Reisenden in Urlaubsstimmung sind und es nicht so genau nehmen, fällt ihnen nicht auf, dass immer dieselben Elemente für die verschiedenen Ansichten verwendet werden. Auch davon, dass das ganze Land vor und hinter ihnen im ständigen Umbau ist, merken sie nichts. Dabei geht es drunter und drüber, wenn Bäume anfangen, ihre Äste einzupacken, sich von den Plätzen erheben und losrennen, Straßen sich zusammenrollen, Dörfer von ihren Bewohnern zusammenklappt werden und Seen und Bäche nass tropfend übers Land hechten, ohne sich vorher abgetrocknet zu haben.

Während die Gäste durch eine makellose Naturlandschaft fahren, die sich besinnlich vor ihren Augen ausbreitet, tobt um sie herum das Chaos. Von den Baumreihen längs der Straße gut verdeckt, rennen Horden von Schwedinnen und Schweden mitsamt dem Zubehör für den richtigen Eindruck an den Urlaubern vorbei und stellen sich ein paar Kilometer weiter vorne wieder so in Positur, als hätte es dort nie anders ausgesehen.

Weil in der Eile nicht alle immer den rechten Platz finden, sieht die Landschaft jedes Mal ein bisschen anders aus und bleibt abwechslungsreich. Es kommt immer wieder vor, dass murmelnde Bächlein und tosende Flüsse aus Versehen ineinander geraten und sich vor dem Eintreffen der Gäste nicht mehr rechtzeitig trennen lassen. Sie müssen für diese Ansicht dann zusammen antreten – zum Beispiel als See. Dumm nur, wenn in so einem Moment auch noch die schwere Brücke, auf der die Reisenden über das Gewässer fahren sollen, wegen Komplikationen beim Abbau im letzten Bild schon eine Ansicht im Rückstand ist und es auf keinen Fall rechtzeitig zum nächsten Ort schaffen wird. Da hilft oft nur ein improvisierter Rastplatz mit Aussicht, der die Touristen geschickt vom Weiterfahren abhält und sie so lange beim Picknicken hinhält, bis die Brückenteile eingetroffen sind.

Es passiert ziemlich oft, dass entscheidende Komponenten für die nächste Landschaft fehlen. Wenn der beliebte blaue Himmel wegen des starken Gegenwinds nicht mitkommt, regnet es in einer Einstellung dann oft tagelang wie aus Kübeln. Oder wenn die Nadelbäume auf dem Weg zum nächsten Panorama wieder einmal über ihre Wurzeln gestolpert sind und sich der Großteil des Waldes ineinander verkeilt hat – dann müssen die Wiesen eben mit ein paar Büschen verziert als Tundra-Landschaft herhalten, obwohl es die in Schweden nur ganz oben im Norden gibt. Hauptsache, die nächste Kurve, hinter der die Gäste verschwinden, liegt rechtzeitig bereit. Lange Geraden, bei denen man ewig mit dem Abbau warten muss, weil die Hektik beim Blick in den Rückspiegel sofort auffallen würde, müssen unbedingt vermieden werden.

Obwohl die Schweden für den schnellen Auf- und Abbau der Landschaften einen speziellen Schraubenschlüssel entwickelt haben, der an alle Teile gleichermaßen passt, klappt die Zusammenarbeit nicht reibungslos. Das fällt vor allem an den Fährhäfen im Süden Schwedens auf, wo die Gegenstände für die ersten Ansichten zusammengestellt werden. Dort sieht es eher aus wie in Mecklenburg-Vorpommern als in Skandinavien. Auch die verschiedenen Farben für die Häuser, die darüber hinwegtäuschen sollen, dass es nur einen einzigen architektonischen Entwurf gibt, sind oft noch nicht trocken bis zum vereinbarten Termin. Immer wieder kommt es deshalb zu verspäteter Auslieferung von Dörfern und Städten, so dass der schönere Teil des Landes erst ab Mittelschweden beginnt. Davon mal ganz abgesehen, dass die Mannschaften ein paar Tage brauchen, bis sie den persönlichen Geschmack der Gäste kennen, der sich mit jedem gefahrenen Kilometer in immer perfekteren Ansichten äußert.

Wenn man all das von oben betrachten könnte, würde man auf sich ständig verändernde Landschaften blicken, die wie Wanderbaustellen umherziehen und die Gäste begleiten wohin sie wollen. Um diese Wanderlandschaften nicht mit anderen wandernden Landschaften kollidieren zu lassen, weil jeder Urlauber natürlich seine eigene Vorstellung von einer perfekten Ansicht hat, werden die Straßen bei entgegenkommenden Fahrzeugen mit genügend Abstand voneinander ausgerollt. Bei den Gästen entsteht so der Eindruck, es gäbe kaum Verkehr in Schweden, dabei geht es hier im Sommer zu wie in einem Ameisenhaufen.

Damit die Teams den Touristen jeden Wunsch erfüllen können, haben sie zusammensteckbare Fassaden für zierliche Dörfer und anmutige Städte im Gepäck. Außerdem gibt es faltbare Hintergründe mit Meeresoberflächen und integrierten Sonnenuntergängen und jede Menge aufblasbare Felsen, die jederzeit eine komplette Schärenlandschaft darstellen können. Für die Pilzesammler unter den Urlaubern gibt es zahllose Sorten, die in Sekundenbruchteilen genau da emporschießen, wo die Suchenden gerade stöbern. So können die Gäste nach der Rückkehr den Daheimgebliebenen vom besten Pilzsommer aller Zeiten vorschwärmen. Jedes Jahr wieder.

Neben einer Unzahl an Kuh- und Schafsattrappen, die inzwischen in allen Feriengegenden der Welt eingesetzt werden, haben die Schweden auch echte Tiere wie den Elch im Programm. Das liebste Tier der Urlauber steht leider nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung, dabei wird es dringend gebraucht zur Ablenkung der Gäste von groben Fehlern in der Landschaftsdekoration. Die wenigen, die es gibt, müssen als Springer arbeiten. Bei den vielen Verpflichtungen schaffen sie es aber nur selten, rechtzeitig vor Ort zu sein und rennen immer wieder planlos und unerwartet über die Straße, direkt vors Auto der Touristen. Für den Fall, dass es während des gesamten Urlaubs nicht zum erhofften Kontakt mit dem Tier kommt, werden die Gäste mit unzähligen Straßenschildern bei Laune gehalten, auf denen das mögliche Ereignis zumindest optisch angekündigt wird.

Weil die Schweden im Sommer nicht auch noch Zeit haben, winterliche Nordlichter für die Touristen an den Himmel zu kleben, halten sie zur Entschädigung an Mittsommer eine Nacht lang den Tag für sie an. Da tanzen sie wie wild mit ihnen um einen Baum herum, bis allen schwindlig ist und die Gäste wenigstens Sternchen sehen von den vielen Umdrehungen.

Weil das alles so schön ist, die Urlauber aber nicht für immer bleiben sollen, haben die Schweden sich eine jährlich wiederkehrende Mückenplage ausgedacht. Diese wird über den gesamten Sommer hinweg gleichmäßig verteilt und sorgt dafür, dass die Reisenden spätestens nach zwei Wochen das Land gerne wieder verlassen. Neben einem ausgeglichenen Gästeaufkommen über die gesamte Saison hinweg, die die touristischen Einrichtungen nicht überfordert, kommt diese Maßnahme vor allem auch den Teams zugute, die sich in Spitzenzeiten sonst nicht vor Gästebetreuungen retten könnten.

 

Wenn am Ende des Sommers alle Urlauber in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind und die Bestandteile der Landschaftsansichten wieder in den großen Depots der Fährhäfen verstaut wurden, suchen die Schweden bereits die Mannschaften fürs nächste Jahr aus. An den langen Winterabenden färben die neuen Teammitglieder ihre Haare blond und schmeißen sich gegenseitig frische Sommersprossen ins Gesicht, die bis zum nächsten Jahr anwachsen. Während die Mädchen üben, wie man abstehende Zöpfe flicht, sitzen die Jungs in der Garage und schweißen neue Oldtimer zusammen, weil die Gäste immer davon schwärmen, wie unverwüstlich skandinavische Automobile sind.

Bis zum nächsten Saisonstart verschwindet das Land dann hinter schwedischen Gardinen damit nicht herauskommt, dass die Aufbauten schon lange nicht mehr abgebaut werden, wenn die Urlauber daran vorbeigefahren sind, weil die Schweden sich längst an die Illusion von ihrer Heimat gewöhnt haben.

 

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