Von Angelika Brox

Lilli zieht ihre Jacke an. Seit einiger Zeit hat sie die Erlaubnis, die Nachmittagsbetreuung an ihrer Schule schon zwanzig Minuten früher zu verlassen.

„Tschüss“, ruft sie und winkt.

Ihre Freundinnen winken zurück, dann vertiefen sie sich wieder ins Spiel. Lilli würde auch lieber weiterspielen und anschließend mit den anderen gemeinsam nach Hause gehen. Doch sie muss ihren Bruder pünktlich von der Kita abholen, weil Mama das nicht schafft. Und Luis ist erst vier, er darf den Weg noch nicht alleine laufen.

 

Schon von der Straße aus sieht sie Luis auf dem Rand der Sandkiste hocken. Neben ihm sitzt eine Erzieherin und streichelt über seinen Rücken.

Beunruhigt tritt Lilli näher. Sie erkennt frische Tränenspuren auf Luis‘ blassem Gesicht.

„Hallo“, sagt Lilli.

„Hallo, Lilli. Deinem Bruder geht es heute nicht so gut, aber er will mir nicht erzählen, was los ist.“

„Vielleicht hat er Bauchweh. Das hat er öfter. Ich koche ihm zu Hause eine warme Milch, das hilft meistens.“

Sie streckt eine Hand aus. Luis ergreift sie und steht auf.

„Geht es eurer Mutter denn schon besser?“, fragt die Erzieherin.

„Ja, danke, sie braucht nur noch viel Ruhe.“

 

Mit Luis an der Hand geht sie die Straße entlang. Vor einigen Jahren war sie selbst die Kleine und lief neben Mama her, ihre kleine Hand lag in der großen von Mama, warm und sicher und geborgen. Ihre Mutter und sie gehörten zusammen, nichts Schlimmes konnte ihnen geschehen.

Für einen kurzen Moment richtet sie ihren Blick  ins Leere und zieht sich nach innen zurück, damit sie das wunderschöne Gefühl von damals wieder spüren kann. Lilli ist froh, dass sie eines Tages diese Fähigkeit bei sich entdeckt  hat. Wegtauchen nennt sie es. Sie taucht in sich selbst hinein und sieht und hört die Welt draußen, als säße sie in einem Aquarium. Alles erscheint weit entfernt und verschwommen und gedämpft.

Das erste Mal passierte es ganz zufällig, als der Vater beim Abendbrot furchtbar böse wurde, weil kein Bier mehr da war. Er beschimpfte die Mutter und brüllte laut und immer lauter. Plötzlich sprang er auf, ergriff die Salatschüssel und schleuderte sie an die Wand. Klirrend schlitterten die Scherben über die Bodenfliesen, weiße Soße, grüne Blätter, Zwiebelringe, Pilze und Paprikastreifen rutschten an der Tapete herunter.

Am liebsten hätte Lilli gesagt: „Das muss Papa aber selber wegmachen“, denn das wäre ja nur gerecht gewesen. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass man den Vater in diesem Zustand auf keinen Fall reizen durfte, sonst machte man ihn noch wütender und er würde gar nicht mehr aufhören zu schreien. Manchmal, wenn er richtig außer sich geriet, schlug er Mama sogar. Das konnte Lilli kaum ertragen.

An diesem bedeutsamen Abend also, als sie das Wegtauchen lernte, presste sie fest die Lippen zusammen, damit bloß kein falsches Wort aus ihrem Mund drang, und auf einmal sah und hörte sie nur noch undeutlich, als befände sie sich unter Wasser. Sie  war in ihr Inneres hineingesunken. Wie aus großer Entfernung nahm sie wahr, dass ihr kleiner Bruder starr vor Angst auf seinem Stuhl hockte. Als sie aufstand, fühlte sie sich wie eine Marionette. Stumm zog sie Luis am Arm und ging mit ihm die Treppe hinauf in sein Kinderzimmer.

Später konnte Lilli das Wegtauchen noch oft gut gebrauchen.

 

Sie springt in die Gegenwart zurück. Ihr fällt ein, dass Luis geweint hat.

„Was war denn los?“, fragt sie.

„Wir sollten ein Lied singen, aber ich hatte keine Lust.“

„Warum nicht?“

„Ich glaube, ich war ein bisschen traurig.“

„Weshalb?“

Luis zuckt mit den Schultern.

„Wegen gestern Abend?“

Luis nickt.

Mama hat gestern Nachmittag wieder einmal verschlafen, weil sie zu viele von den Tabletten genommen hatte, die sie nehmen muss, wenn sie sich große Sorgen um Papa macht. Deshalb ist sie nicht dazu gekommen, Bier und Schnaps zu kaufen. Abends warf der Vater die leeren Flaschen an die Wand und rannte aus dem Haus, um in seinem Stammlokal zu trinken.

Lilli drückt Luis` Hand. „Du weißt ja, dass Papa den schlimmen Unfall hatte.“

Luis nickt. „Deshalb tut ihm dauernd der Kopf weh.“

„Und er glaubt, der Alkohol würde ihm helfen.“

„Mama sagt, er meint es nie böse.“

„Genau. Hinterher tut es ihm jedes Mal leid.“

 

Frau Sommer kommt ihnen entgegen. Sie wohnt in dem Reihenhaus neben ihrem.

Schnell ermahnt Lilli ihren Bruder: „Denk daran, was Mama gesagt hat! Wir dürfen niemandem erzählen, was bei uns zu Hause los ist!“

„Nicht mal Oma und Opa“, ergänzt Luis.

„Genau.“ Lillis Herz schmilzt. Ihr kleiner Bruder ist so lieb und so süß!

Als sie auf einer Höhe mit der Nachbarin sind, grüßt Lilli und will zügig an ihr vorbeigehen, doch Frau Sommer bleibt stehen.

„Ist alles in Ordnung bei euch?“, fragt sie. „Gestern habe ich Lärm gehört. Übrigens schon häufiger in letzter Zeit.“

„Das war bestimmt der Fernseher“, antwortet Lilli. „Den müssen wir so laut stellen, seit unser Vater den Unfall hatte, weil er nicht mehr so gut hört.“

Frau Sommer mustert sie mit forschenden Blicken. „Na dann“, sagt sie und geht endlich weiter.

Luis schaut Lilli mit runden Augen an. „Du hast gelogen!“

Sie streicht ihm über den Kopf. „Ich weiß, dass man eigentlich nicht lügen darf. Aber ich habe es für Mama getan. Das verstehst du doch, oder?“

Luis nickt.

 

Endlich stehen sie vor der Haustür. Lilli nimmt das Band mit dem Schlüssel vom Hals und schließt auf. Drinnen herrscht Stille. Vielleicht ist der Vater weggegangen und die Mutter schläft. Das wäre das Beste. Dann hätten sie für eine Weile Ruhe.

Auf der Flurkommode liegt ein Zettel. „Muss mit Papa zum Arzt. Macht euch bitte selbst etwas zu essen. Bis später! Mama.“

Aber sie haben keinen Hunger. Sie ziehen die Schuhe aus und gehen nach oben in Luis` Zimmer. Lilli liest ihm eine lustige Geschichte vor, um ihn von seinem Kummer abzulenken. Als sie gerade eine Seite umblättert, hört sie von unten ein Geräusch. Ein Knarren. Auch Luis spitzt die Ohren. Sie legt den Zeigefinger an die Lippen und horcht. Etwas raschelt. Sind das Schritte? Einbrecher?

„Ich gehe nachsehen“, flüstert sie. „Du bleibst hier und schließt die Tür ab. Egal, was passiert, du kommst auf keinen Fall raus. Und mach niemandem auf, okay?“

„Ja“, haucht Luis.

Lilli huscht hinaus und schließt leise die Tür. Eine Sekunde später hört sie, wie Luis den Schlüssel umdreht. Gut gemacht, kleiner Bruder!

Sie schleicht in ihr Zimmer nebenan, holt ihren Hockeyschläger unter dem Bett hervor und geht so geräuschlos wie möglich Stufe um Stufe die Treppe hinunter. Im Flur bleibt sie stehen und lauscht. Nichts. Kein einziger Laut.

Mit einem Ruck öffnet sie die Wohnzimmertür und drückt sie bis an die Wand, denn aus Filmen weiß sie, dass sich manchmal jemand dahinter versteckt. Sie verharrt auf der Schwelle und lässt den Blick langsam durch den Raum schweifen. Niemand zu sehen. Vorsichtig tritt sie ein, schaut hinter dem Sofa nach, hinter den Sesseln, in der Ecke zwischen Schrank und Fensterwand, hinter den bodenlangen Vorhängen, auf der anderen Seite zwischen Riesenbambus und Bücherregal. Schließlich tritt sie den Rückzug an.

Im Flur bleibt sie wieder stehen und horcht. Es scheint, als hätte die Stille ein Gewicht und würde die Luft so verdichten, dass Lilli kaum atmen kann.  

Auf Zehenspitzen geht sie hinüber zum Esszimmer und drückt die Tür bis zur Hälfte auf. Weiter lässt sie sich nicht öffnen, weil sie am Geschirrschrank anstößt. Von der Schwelle aus sucht Lilli mit den Augen das Zimmer ab. Soweit scheint alles in Ordnung zu sein. Nur die Nische hinter der Tür kann sie nicht einsehen. Und wenn dort der Einbrecher lauert?

Während sie noch überlegt, was sie tun soll, schabt etwas leise am Türblatt entlang. Heißer Schrecken schießt durch ihren Körper. Alle ihre Sinne melden Alarmbereitschaft. Unterhalb der Türklinke taucht eine glänzende Messerspitze auf. Lillis Herz hämmert gegen die Rippen. Sie kann nicht glauben, dass dies hier wirklich geschieht. Doch das schabende Geräusch setzt sich fort. Wie in Zeitlupe, Zentimeter für Zentimeter, schiebt jemand das Messer am Türblatt entlang vorwärts. Die Klinge wird lang und länger. Lilli starrt wie hypnotisiert auf das Mordwerkzeug.

Schließlich hält sie die Anspannung nicht mehr aus. Sie packt den Hockeyschläger mit beiden Fäusten, springt in den Raum und knallt mit dem Fuß die Tür ins Schloss. Neben dem Schrank steht Luis. Mit seiner kleinen Hand umklammert er den Griff eines riesigen Küchenmessers und macht ein zu allem entschlossenes Gesicht.

Lilli lässt den Schläger fallen, sinkt vor dem kleinen Bruder auf die Knie und schließt ihn in die Arme. Tränen überfluten ihre Augen. Mutiger, tapferer kleiner Luis! Um ihr zu helfen, hat er sein Leben riskiert! So sehr wie in diesem Moment hat sie ihn noch nie geliebt. Ihr Herz wird warm und weit, ihre Liebe dehnt sich unendlich aus, so groß wie die Welt – mindestens.

Die ganze Zeit hat sie geglaubt, sie müsste ihre Mutter beschützen und dürfte sie nicht im Stich lassen. Plötzlich versteht sie: Luis ist es, den sie beschützen muss! Er soll nie mehr schlecht träumen, weil die Eltern sich wieder mal gestritten haben. Es darf nicht sein, dass er in der Kita weint, weil es am Abend vorher zu Hause so schrecklich zuging. Von Mama ist keine Hilfe zu erwarten, die hält immer zu Papa. Eigentlich spürt sie bei den Großeltern viel mehr, dass sie und Luis liebgehabt werden.

Sanft nimmt sie ihm das Messer aus der Hand und sagt: „Alles wird gut. Setz dich mal kurz aufs Sofa, ich rufe Oma und Opa an.“

Sie legt das Messer auf die Flurkommode, nimmt das Telefon von der Station und wählt die Nummer ihrer Großeltern. Als die Oma sich meldet, sagt sie: „Hier ist Lilli. Könnt ihr Luis und mich bitte abholen?“

„…“

„Wir sind okay. Aber wir möchten lieber bei euch wohnen.“

„…“

„Ich erzähle es, wenn wir bei euch sind.“

„…“

„Ja, bis gleich.“

Sie streckt die Hand aus und sagt: „Komm, Luis, wir verreisen zu Oma und Opa. Sie kommen gleich und holen uns ab. Lass uns nach oben gehen und ein paar Sachen einpacken.“

Luis steht vom Sofa aus und legt seine Hand vertrauensvoll in ihre.

„Ist gut“, sagt er und lächelt sie an.

 

 

 

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