Von Hubertus Heidloff

Hermann konnte kaum glauben, dass er schon seinen 30. Geburtstag feiern sollte. Er war ein gestandener Mann, wie man so sagt. Die Tage, an denen er gut gelaunt war, an denen er jeden der vorbeikommenden Menschen mit einem lauten und deutlichen „guten Tag“ begrüßte, so dass diese sich umdrehten und über den ihnen seltsam vorkommenden Menschen nur den Kopf schüttelten ohne eigentlich zu wissen, warum er oder es so war, kamen recht selten vor.

 

Für ihn waren das Tage, an denen er glaubte, jeder Mensch müsse so sein wie er, aufgeschlossen, intelligent, freundlich, mutig, eigentlich offen für alles, das Gegenteil jener widriger Zeitgenossen, deren Leben dem einer grauen Maus glichen, die vor ihrem Loch kaltblütig darauf lauerte, die Katze auf sich aufmerksam zu machen, um bei ihrer Annäherung sofort zu verschwinden, jener Menschen also, die sich in all ihrem Tun als etwas Besonderes wähnen, die darauf hoffen, alle Menschen könnten ihr Gebaren erkennen und würdigen, ja sogar neidisch werden auf eine solche Weltzugewandheit.

 

Doch diese Menschen, die nicht wussten, wie armselig und trostlos ihr Leben eigentlich verlief, waren in seinen Augen das, was man als Ignoranten bezeichnete, als geistig Blinde, die nur einen winzigen Ausschnitt aus dem modernen Leben,  – wenn es denn ein solches gibt -, erkennen konnten und dennoch lauthals verkündeten, sie seien gewissermaßen das Volk, könnten demnach denken und sagen, was sie wollten, wobei sie deshalb eigentlich jeder verstehen müsse.

Das war Hermann, so wie er sich sah, wie er sich selbst im Spiegel sah, wenn er denn einmal hineinschaute, aber nicht, um sein „Ich“ zu erkennen, sondern nur den Sitz der an der linken Seite über der Schläfe befindlichen Locke zu betrachten, einer Haarsträhne, die ihm das Aussehen, wie er meinte, eines Mannes von Welt gab, der allein durch ebendiese Locke aus der großen Menge der gewöhnlichen Menschen hervortrat.

Aber so war er nicht. Im Urteil seiner Mitmenschen galt Hermann eher als Grantler, als Griesgram, dem man besser aus dem Weg geht, und somit war seine Einsamkeit zu verstehen.

 

Er hatte alles. Zumindest fast alles. Er meinte, mit seiner Einstellung, seiner außergewöhnlichen Weise des Denkens, die Menschen beeindrucken zu können. Was er sonst noch an Werten hatte, ist nicht der Rede wert.

Er wiederum sah Menschen mit solchen Ansichten bildlich auf einer Treppe gehen, dabei nicht wissend, ob sie sich aufwärts oder abwärts bewegten. Eigentlich, so meinte er, seien sie stehen geblieben in ihrem Leben. Er war anders. Für ihn war das Leben zwar auch eine Treppe, aber eine solche, die durch ihre hölzerne Konstruktion beweglich war, die sich bewegte und an den brisantesten Stellen vorbeiführte, die ihn gewissermaßen an den Kernpunkten seines Lebens anhalten ließ. Zu diesen Zentralen gehörte die Kneipe an der Ecke seines Straßenzuges.

Die Kneipe, von zwei alten Leuten seit Jahren geführt, war für ihn zu einem Eckpunkt geworden, mit den Menschen darinnen, die stumpf am Tresen saßen, sich an einem Bier stundenlang festhielten, vor sich hindösten, um am Ende des Abends einen „frohen Abend“ zu wünschen und sich auf den Weg nach Hause zu machen, sich ins Bett fallen zu lassen und zu hoffen, dass der morgige Tag etwas Besseres bringen möge.

Hermann war anders. Ihm ging es nicht um ein schnödes, verschaltes Bier, sondern er hörte die Musik, die aus der Jukebox schallte, eine Musik, die erwärmte und deren Wärme ihn von innen her erreichte und  ihm an so manch einem Abend half, den trostlosen Alltag zu vergessen, gleichwohl die Möglichkeit bot, seine doch eigentlich positive Grundeinstellung zum Leben sichtbar auszuleben. Seine Einsamkeit war still, wunderbar still und so groß wie der kalte Raum, in dem sich alles nur langsam bewegte. Er liebte die Stille, die ihn, wie er meinte, auch zu seiner eigenen Stille führte und einen heimlichen Reiz auf ihn ausübte. Hermann liebte dieses Leben, welches nur ihm gehörte und an dem er keinen anderen Menschen teilhaben ließ.

 

 Auch ein Auto hatte er, mit dem er ab und zu in die Stadt zum Einkaufen fuhr, wenn das Auto wollte. Es hatte die rein tierische Angewohnheit, manchmal so störrisch wie ein Esel auf der Stelle zu bleiben, als ob man von ihm erwarte, er müsse nun wieder schwere Lasten tragen ohne dafür gelobt zu werden.

Mit allem hatte es Hermann schon versucht: Er gab seinem Auto einen Kanister Benzin, wechselte die Zündkerzen aus. So viele Zündkerzen hat noch kein Auto gehabt, sagte er sich. Da können zig Adventskränze bestückt werden. Doch das Auto blieb auf der Stelle stehen und rührte sich nicht. Auch Anschieben nutzte nichts, im 2. Gang anfahren gefiel dem Auto scheinbar überhaupt nicht. Meistens passierten solche Eseleien gerade dann, wenn es zeitlich sehr eng wurde, die Geschäfte kurz vor der Schließung standen oder der kommende Tag ein Feiertag war.

Nun gut, es war eben so und Hermann hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. Das Auto war eben auch nur ein Mensch.

 

Hermann hatte sich deshalb mehr und mehr angewöhnt, mit dem Rad in die Stadt zu fahren. Eine fast gleichaltrige junge Frau aus der Nachbarschaft entwickelte eine ähnliche Leidenschaft, vielmehr handelte es sich dabei wohl doch eher um eine Angewohnheit, resultierend aus Armut, Langeweile, zukunftsweisendem Handeln, mit dem sie, wie sie sagte, ihren Anteil zum zukünftigen Umweltbewusstsein beitragen möchte.

Diese junge Frau, Gabi, wurde eines Tages Ziel seiner Wünsche.

Hermann hatte es trotz allen Bemühens bislang nicht geschafft, ein weibliches Wesen auf seine eigentlich unübersehbaren Vorteile aufmerksam zu machen, die er darin sah, ein Alleskönner zu sein, ein Allrounder, wie er sich anglistizierend nannte, der gleichermaßen auf handwerklicher wie auch auf intellektueller Ebene mit jedem anderen mithalten konnte.

Er sprach sie vor dem Aldi an und schlug vor, einmal zusammen essen zu gehen. Ihr passte das und schon bald saßen sie in einem Restaurant, nicht weit entfernt von ihrer beider Haus. Hermann hatte sich zu dieser Gelegenheit einmal seine besten Klamotten angezogen, wozu eine Krawatte unerlässlich war. Bereits das Binden bereitete ihm Schwierigkeiten und so musste seine Mutter einspringen und sich Jahre nach dem Tod ihres Mannes zum ersten Mal wieder mit dem Strick, wie sie sagte, abgeben müssen. Hermann war’s zufrieden und mit seinem Ergebnis  wagte er den Schritt in ein neues Abenteuer.

 

Sie hatte sich Leber mit Zwiebelringen bestellt, er Spaghetti mit Sauce Bolognese. Aber wie sollte er die Spaghetti essen? Vom Löffel rutschten sie immer wieder runter, für die Gabel waren sie zu lang, mit dem Messer ließen sie sich nur schlecht in kleine Stücke schneiden.

Gabi musste lachen, als sie seine verzweifelten Versuche mit den seltsam langen Nudeln sah. Sie riet ihm, er solle doch mal den Knigge lesen. Wie konnte sie es wagen, ihm, dem weltgewandten Menschen Ratschläge geben, obwohl er tatsächlich für sich im tiefsten Inneren zugeben musste, dass sie ein klein wenig recht hatte, da es ihm trotz seiner kulturellen Ausstrahlung kaum gelungen war, das Problem fachgerecht zu lösen.

Ihm war schlecht. Das Auto spielte Esel und Gabi trieb ihn zum Lesen eines Buches.

Wo soll ich anfangen, wo soll ich suchen, wo es doch so viele Bücher gibt?

 

In jener Nacht nach dem Essen mit Gabi hatte er einen seltsamen Traum. Darin kam ein Engel auf ihn zu und sprach:

„Fürchte dich nicht. Ich will dir helfen, dein Leben in den Griff zu bekommen.“

„Ich habe doch alles, ein Auto, eine Freundin, ein Dach über dem Kopf und einen Beruf“, entgegnete er selbstbewusst.

Der Engel stellte sich vor: „Man nennt mich Engel Eigentlich. Ich möchte Menschen dazu bringen, ihr Leben zu überdenken und zu ändern“.

„Warum soll ich mein Leben ändern?“

„Schau mal“, sagte der Engel und kam ihm dabei sehr nahe, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen oder auch, um eine Intimsphäre zu erzeugen, die Hermann offen machen sollte für das Erkennen der Realität.  

„Wenn du dir einmal  die Frage stellen würdest, ob es eigentlich der richtige Wagen für dich ist, den du jetzt schon so viele Jahre in der Garage stehen hast, kommst du vielleicht zum Ergebnis, dass du dich nicht mehr ärgern müsstest, wenn du ein anderes Auto fahren würdest.“

Über so viel hätte und könnte und würde hatte sich Hermann eigentlich noch nie Gedanken gemacht. Noch andere Hinweise hatte der Engel parat.

Er nahm sich vor, sein Leben zu ändern. „Zur Sache, Schätzchen!“ wurde sein Wahlspruch in den nächsten Tagen, ein neuer Patronus, sein neuer Schutzherr, der ihn dazu aufrief, positiv zu denken und der in einer Tiergestalt auftrat.

Aber das war gar nicht so leicht, denn dieser Patronus stellte sich als Schweinehund heraus, der immer wieder versuchte, sich in alte Kleider verkleidet ihn zu verführen, alte Lebensgewohnheiten aufzugreifen beziehungsweise gar nicht davon abzugehen.

„Packen wir’s an“, hieß das, um zugleich fest zu stellen, dass er keine Lust dazu empfinde.

Er wollte den Knigge lesen, sich die Buddenbrocks aus der Bücherei entleihen, sich beruflich neu bewerben, Fernsehsendungen mit Niveau anschauen.

Mit den Buddenbrocks wagte er einen Anfang, doch allein die ersten Seiten zeigten ihm, dass der Inhalt des Buches nicht in seiner Welt spielte, außerdem war das Buch  so dick und schwer zu verstehen und so kompliziert war es auch. Und seine Zeit nahm es ihm auch noch weg. Er legte das Buch zunächst einmal zur Seite.

In verschiedenen Sendungen wurde diskutiert und die Argumente der Teilnehmer ausgetauscht.

Hermann hatte Probleme, die Positionen zu verstehen und annehmen zu können. Er stellte fest, dass er doch eine ganz klare Meinung hatte. Warum sollte er sich eigentlich die Mühe machen, Positionen von anderen anzunehmen? Die redeten doch alle nur den gleichen Blödsinn.

Mit dem Knigge war es doch auch so schwer und musste man wissen, wie man eine Frau zum Essenstisch begleitet und wer sich wann setzen darf? Über Kapitel, die das Essen von Hummer  oder das Anfassen des Glases beschrieben, musste Hermann herzlich lachen. Wer sollte zuerst eine Treppe herunter gehen und zuerst den Mantel anziehen? War doch ganz einfach zu ihr zu sagen, sie solle sich ihm gegenüber hinhocken. Und Hummer werde er sowieso nie essen. Wie Gläser anfassen? Die packt man sich und dann hinein und hinunter mit der Flüssigkeit. Ganz einfach.

Der Engel Eigentlich hatte ihm nicht helfen können und so lebt Hermann ganz gut und ist’s eigentlich ganz zufrieden.

 

 

 

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