Von Katharina Rieder

„Hallo Schätzchen!“

Eine Fremde betritt mein Zimmer. Sie erinnert mich ungut an die Sonne, die mir immer wieder den Tag vermiest: Sie blendet und es ist viel zu heiß in ihrer Nähe. „Na, wie geht es uns heute?“

Ihre Stimme lässt Wellen durch meinen Körper strömen. Sie schmerzen, zerren erbarmungslos an meinem innersten Kern. 

‚Was ist das für eine doofe Frage? Es gibt kein uns, kein wir. Und mir ginge es besser, wenn du nicht hier wärst!‘

In meinem Leben ist nichts rund, ruchbar oder reversibel, sondern eher rechteckig, ruppig und rigoros. Seit einigen Monaten fühlt sich für mich alles eckig an, auch das Bunte, Gemusterte und Wilde. In dieser „groben Welt“ finde ich mich besser zurecht. Das Problem ist nicht die Form an sich, sondern das, was ich dabei fühle. Alles „nicht Eckige“, empfinde ich als nah und warm. Ich brauche es aber kühl und fern!

‚Ich möchte, dass das ‚füllige Rechteck‘ wieder zurückkehrt! Sofort!‘

So nannte ich die andere Frau, die junge. Die mochte ich sehr. Sie sprach kein Wort. Tat, was zu tun war. Häufig platzierte sie sich in der Nähe des Fensters, schaute auf ihr Handy und wischte in Windeseile mit ihren Fingern über das Display, hielt den nötigen Abstand und ignorierte meine Anwesenheit. 

Einmal zauberte sie aus ihrer Kitteltasche eine quadratische Schokolade, die sie stumm auf den Nachtisch legte. Hin und wieder holte sie das lederne Buch aus dem Regal und las mir aus dem großen Lexikon der Architektur vor. Wie gerne würde ich in einem dieser hochmodernen Häuser wohnen!

„Na, wer hat denn da sein Brot nicht aufgegessen?“

Die Sonne sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Ich starre auf ihre hässlichen Rillen und wünschte, sie wären wenigstens geradlinig. Aber nein, sie schlängeln sich über ihre Stirn, wie Blindschleichen im Sand. 

„Sie müssen doch etwas essen. Sie sind ja schon ganz dürr!“

‚Jetzt kann ich aber nicht mehr essen! Mir ist übel!‘

Ich drehe meinen Kopf weg.

„Na, wir sind heute aber wieder gut gelaunt! Welche Laus ist uns denn über die Leber gelaufen? Wenn sie wenigstens Mal einen Ton sagen würden!“

Alle denken, ich könnte nicht sprechen, weil schon seit Monaten kein Laut mehr aus meiner Kehle gedrungen ist. In meinem Gehirn jagen die Gedanken ruhelos von links nach rechts. Ich denke mehr, als die Allgemeinheit denkt! Behalte die Dinge lieber für mich, alles meins. 

„Heute Nachmittag bekommen Sie Besuch. Raten Sie mal wer, Schätzchen!“

‚Ich dreh dir gleich den Hals um, wenn du mich noch einmal Schätzchen nennst!‘

Es kommt nur noch selten jemand vorbei und das ist auch gut so. Wenn hin und wieder jemand auftaucht, weiß ich häufig gar nicht, wer da vor mir sitzt. Ich spüre die Erwartungshaltung meines Gegenübers. So, als sollte ich es wissen. Ich komme mir dumm dabei vor. Bin aber nicht blöd, ticke nur anders! 

***

Jemand klopft an die Türe. Gerade war es noch so schön still. 

„Hallo Schätzchen, ihre Tochter ist da!“

Die Sonne tritt in den Raum, hinter ihr taucht eine kleine, pummelige Frau mit zerknitterter Bluse auf. 

„Hallo, Papa! Ich bin`s, Solveig!“

Sie beugt sich zu mir herab, ich verschränke die Arme vor meiner Brust. 

‚Puh, Glück gehabt! Der Kuss auf die Wange bleibt aus!‘ Die Knitterblusenfrau setzt sich auf die Bettkante, knetet ihre dicken Finger, die mich an Wiener Würstchen erinnern. 

‚Das soll meine Tochter sein? Na, gute Nacht!‘

„Cedrik lässt dir schöne Grüße ausrichten. Er hatte leider keine Zeit mitzukommen!“

‚Wenn ich mit Gogo Gassi geh, dann bleiben alle Leute stehen! Gogo kann vorwärts und rückwärts gehen, das kann nur Gogo!‘

Sie sieht mich mit ihren kleinen, runden Augen hoffnungsvoll an und kramt in ihrer Tasche nach einem Foto, das sie mir entgegenstreckt. 

„Cedrik, Papa! Mein Mann! Erinnerst du dich?“

Mein Blick wandert über ihre lederne Tasche. Sie erinnert mich an Briefumschläge im C6-Format. Die mag ich. 

„Gefällt dir meine Tasche, Papa? Die habe ich letztes Jahr von Cedrik zu Weihnachten bekommen. Ist echt Leder. Ah, da fällt mir ein, ich habe dir ein paar Pralinen mitgebracht!“

Sie streckt mir eine blaue Schachtel mit kleinwürfeligen Süßigkeiten hin. 

‚Immerhin keine runden Pralinen!‘

Eine angenehme Ruhe entsteht. Nur das regelmäßige Ticken der Wanduhr gegenüber des Bettes ist zu hören. Die Knitterblusenfrau sieht sich im Raum um. Ihr Blick gleitet über mein Gesicht. Ich spüre sie deutlich, ihre Blicke, starre auf die feuchten Innenflächen ihrer Hände. Sie reibt sie über ihre feisten Oberschenkel, klopft mit ihren Fingern auf das Bettende. Sie erhebt sich, stellt sich an das Fenster. Ich sehe sie von hinten. Ein breites Kreuz, das von zwei stämmigen Beinen getragen wird, Arme, die zupacken können. Ihr Körper zuckt, sie schluchzt. Das Beben verstärkt sich, ergreift mich. Meine Hände ballen sich zu Fäusten, sie fahren auf die Matratze nieder. Immer und immer wieder. Sie dreht sich um. Wir sehen uns an. Ihr Gesicht ist feucht und gerötet. 

„Papa, was ist? Es tut mir leid … Aber, ich. Ach, …“

‚Sei still! Hör sofort auf!‘

„Es ist nur so, als wärst du nicht mehr hier! Wo bist du? Ich vermisse dich!“

Ich springe aus dem Bett, greife nach der Tasse auf meinem Nachttisch, pfeffere sie gegen die Wand. Die Knitterblusenfrau zieht an der Schnur, die neben meinem Bett baumelt. Die Türe geht auf und die Sonne taucht auf. 

„Was ist denn hier passiert, Schätzchen? Na, nicht so schlimm! Das machen wir gleich wieder sauber!“ 

Von draußen fallen Sonnenstrahlen auf den Spiegel, der über dem Waschbecken hängt. Sie blenden mich. Ich reiße ihn von der Wand, schmettere ihn auf den Boden. Es kracht, er zersplittert. Die Scherben verteilen sich im ganzen Raum, das Licht reflektiert, schimmert an den Wänden. 

„Papa!“, ruft die Knitterblusenfrau.

„Schätzchen, Schluss jetzt!“

Ich spüre eine Kribbeln in meinen Zehen. Es verstärkt sich, breitet sich über meine Beine über meinen gesamten Körper aus. Eine intensive Welle kämpft sich von meinen Bauchraum nach oben durch. Der Knoten in meinem Hals öffnet sich schleusenähnlich. Meine Lippen bewegen sich. 

„Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah ….“

Ein sirenenartiger Laut dringt aus meiner Kehle und plötzlich tauchen die Bilder der Vergangenheit wieder vor mir auf. Ich bin im freien Fall. Die beiden Frauen sehen mich an, als würde ein Geist vor ihnen stehen. 

„Erika. Erika, sie war`s!“, rufe ich aus.

„Was meinst du Papa?“

„Deine Mutter, sie hat mich die Treppe hinunter geschupst!“