Von Agnes Decker

Mit feuchten Händen umklammere ich das Kuchenpäckchen. Frankfurter Kranz, mit „echter“ Buttercreme. So süß wie möglich. Vor dem Eingang mache ich noch einmal Halt, versuche meine Gedanken zu sortieren und den Puls auf ein Normalmaß zu bringen. „Tief einatmen, halten, dann ausatmen, wieder ein, dann wieder aus“, sage ich innerlich zu mir selber und spüre, wie ich etwas ruhiger werde.

Angefangen hatte alles mit dem Anruf der Heimleitung und der Mitteilung, meine Großmutter bitte dringendst darum, von mir besucht zu werden. Ich kann mir den befehlenden, harten Tonfall vorstellen und, wie sie es betont hat: „Dringendst“. So hat sie schon immer gesprochen. Seit ich denken kann. Und alle sind angetreten, ausnahmslos. Die Söhne und Töchter, die Schwiegerkinder, die Enkel und Urenkel und ganz, ganz früher auch der Ehemann. Jetzt hat sie mich hierhin zitiert, sie, das Oberhaupt unserer Großfamilie. Mit strenger Hand und einem Riesenherz kam sie, seit ich denken kann, dieser Aufgabe nach. Nicht ungewöhnlich für die Generation der Trümmerfrauen. Wenn sie von früher erzählte, und das tat sie oft, betonte sie immer wieder, dass die Frauen es waren, die das Leben aufrechterhalten hatten während dieses fürchterlichen Krieges, und die später maßgeblich am Aufbau des zerstörten Landes beteiligt waren. Frauen. Alte und Junge. Verwitwet. Alleinerziehend. Ausgebombt.

Ich atme noch ein letztes Mal tief durch, dann trete ich durch die gläserne Eingangstüre, die wie von selbst vor mir zurückweicht. Meinen Impfpass, den Personalausweis und das Testergebnis nehme ich aus der Jackentasche und zeige es der freundlichen Dame, die mir nach peinlich genauer Überprüfung zunickt und das geflochtene Seil wegnimmt, das den Eingang versperrt. Nachdem ich den Sitz meiner Maske überprüft habe, gehe ich langsam den vertrauten Weg, vorbei an der grüßenden Empfangsdame, die mich fragt, wie es geht, ohne eine Antwort zu erwarten.

Ich betrete den Aufzug, der sich etwas holprig in Bewegung setzt, um in der 3. Etage anzuhalten. Dann gehe ich weiter, den Flur entlang, vorbei an geschlossenen Türen und beigefarbenen Wänden mit bunten Bildern, atme den muffigen Geruch des Alters ein, der sich vermischt mit dem nach Desinfektionsmitteln, Ammoniak und warmem Mittagessen. Bis auf zwei Frauen in weißer Kleidung, die von Zimmer zu Zimmer eilen, um die verschmierten Teller mit den unansehnlichen Resten abzuräumen, ist niemand zu sehen, nichts zu hören. Fast so, als wäre das Haus unbewohnt. Mir ist ein bisschen übel. Ich versuche, durch den Mund zu atmen, was mir nicht gelingt und dazu führt, dass ich einen Schwall dieser Duftkomposition einatme, den ich vermutlich nicht so schnell loswerde.

Vor dem Zimmer mit der Nr. 317 bleibe ich stehen. Das Papier des kleinen Kuchenpaketes ist schon ganz zerknittert und an einer Stelle eingerissen. Vielleicht kann ich es ungesehen entsorgen, bevor sie es sieht. Ich klopfe an die Tür.

„Ja, bitte.“ Die vertraute Stimme. Etwas leiser und brüchiger, aber immer noch bestimmend, trotz ihrer 96 Jahre.

Da sitzt sie. In aufrechter Haltung in ihrem geliebten, etwas abgewetztem Ohrensessel aus grünem Samt. Eine karierte Decke über den Beinen. Schaut mich an. Mit ihren hellen, wachen Augen.

 „Guten Tag, Großmama“, sage ich. So, wie ich es gelernt habe. Nicht Oma, sondern Großmama. Darauf hat sie immer Wert gelegt, wie auf die Einhaltung der Sitten und Gebräuche.

Ich stelle das Kuchenpaket auf den Tisch, ziehe meine Jacke aus und hänge sie ordentlich auf den Bügel an der kleinen Garderobe. Hier gibt es keine Muffigkeit. Vielmehr riecht es frisch, nach einer Mischung aus Lavendel und Kölnisch Wasser. „Wenn ich anfange zu verwahrlosen, will ich nicht mehr leben“, hatte sie mehr als einmal gesagt, nachdem sie vor zwei Jahren ihr geliebtes Haus aufgegeben und hierhin gezogen war.

„Da bist du ja endlich. Und Kuchen hast du mitgebracht.“

„Ja, Frankfurter Kranz. Den magst du doch am liebsten.“

„Frankfurter Kranz.“ Das Gesicht meiner Großmutter verzieht sich zu einem Lächeln, das ihre Falten aufspringen lässt.

Wie  vertraut sie mir ist, und wie sehr ich sie liebe. So sehr, dass es ein bisschen wehtut.  Der Gedanke, sie wäre nicht mehr …  Meine Kehle wird eng. Schnell schlucke ich das, was sich in mir ausbreiten will, herunter, hole einen Teller aus dem Schrank, packe den Kuchen aus  und lege ihn darauf.

„Stell ihn in den Kühlschrank. Ich esse ihn später.“

Der kleine Kühlschrank ist fast leer, bis auf eine Flasche Orangensaft, einige Joghurtbecher und einen runzligen angebissenen Apfel. Ich stelle den Teller hinein, nehme mir einen Stuhl und rücke ihn neben ihren Sessel. Als ich mich hingesetzt habe, ist es eine Weile ganz still. Dann räuspert sie sich.

„Du bist ihm ähnlich, deinem Großvater. Du hast seine Augen und sein Temperament. Aber auch seine Sturheit. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann hat er es auch getan. Wie ein Terrier war er, der nicht mehr loslässt.“ Sie hat sich zurückgelehnt, wirkt klein und zart in diesem riesigen Sessel.

„Stolz war ich“, sagt sie. Ihre Augen sind verschleiert. Sie spricht leise, wie zu sich selbst. „und gleichzeitig hatte ich Angst um ihn, wenn er im Keller mit seinen Freunden die Flugblätter druckte und sie nachts heimlich verteilte.“

Jetzt sehe ich, daß ihre Augen geschlossen sind und ihr Kopf zur Seite gefallen ist. Mitten im Gespräch ist sie eingeschlafen, so wie es ganz alten Menschen passiert. Eine Weile sitze ich neben ihr und betrachte sie. Von alten Fotos weiß ich, dass sie einmal eine schöne Frau war, mit aufrechter Haltung und einem strahlenden Lächeln, das lange dunkle Haar am Hinterkopf zu einem strengen Dutt zusammengefasst. Auch jetzt im hohen Alter sieht sie noch gut aus, auch wenn die jetzt schneeweißen Haare kaum noch die Kopfhaut bedecken.

Ich wende meinen Blick ab, schaue auf das Bild, das an der gegenüberliegenden Wand über dem Sofa hängt, dort wo es  schon sein gesamtes Bilderleben verbracht hat, wenn sich auch mittlerweile die Location geändert hat. Eine Landschaft mit See und Nebel darüber, Bäume und ein unruhiger Himmel. Gemalt von meinem Großvater, der viel Zeit hatte, als er aus dem Krieg zurückkam, in dem er einen Arm und seine Zuversicht verloren hatte.

Der Kühlschrank summt, ansonsten ist es still im Raum. Von draußen hört man das Geklapper sich öffnender Türen, Stimmen, die auf- und abschwellen. In meinem Kopf ist alles vernebelt, so wie auf dem Bild, das über dem Sofa hängt. Einschlafen möchte ich. Mich in diese Landschaft hineinträumen. Ihre Hand nehmen und ihr sagen, dass alles gut ist.

„Entschuldige, Kind. Manchmal wandele ich zwischen den Welten.“ Großmamas Blick ist jetzt wieder klar. „Zwischen der hier in meinem Sessel, in dem ich die Zeit absitze und der, in der ich mein Leben betrachte wie einen Film. Bisher bin ich immer noch zurückgekommen.“

„Warum hast du…? Ich meine, die Heimleiterin hat gesagt, es sei dringend … .“ Ich höre mich stottern, finde die Worte nicht, spüre, wie eine Unruhe in mir hochsteigt. Tief aus dem Bauch.

„Dringendst.“ Ihr Gesicht ist jetzt hart und kantig. Sie schaut an mir vorbei aus dem Fenster. „Gestern Nacht sind sie mit Fackeln und Trommeln vor das Haus der Gesundheitsministerin gezogen. Hast du das gesehen?“ Ihre Stimme ist lauter geworden, drängender, reißt mich aus meiner Trägheit.

„Ja, in den Nachrichten.“

„Und ich habe geglaubt, so etwas würde nie mehr geschehen.“ Sie lacht. Ein bitteres Lachen ist es. „Und?“, sagt sie und schaut mir direkt in die Augen.

Ich schaue hinein, sehe die Kraft, die immer noch darin ist, aber auch die Wut und die Angst. Heiß wird mir. Ich fühle mich plötzlich wie ein Kind, das an der Tafel steht und die Antwort nicht weiß.

 „Und?“, sagt sie noch einmal. „Was gedenkt ihr zu tun?“

„Wie…“, würge ich hervor. „Ich meine, was willst du …?“  

„Mit Fackeln und Trommeln, verstehst du? Sie marschieren wieder.“ Sie schaut mich immer noch an.

„Ja“, sage ich. Versuche, meine Verwirrung zu verbergen.

„Weißt du noch, mein Schätzchen, wie du uns damals angeschrien hast? Deinen Großvater und mich und deine Eltern? „Ihr habt es doch alle gewusst“, hast du gebrüllt. Wie ein Racheengel hast du vor uns gestanden, in deinen zerrissenen Jeans und einem deiner Lieblingsshirts, das, wie alle anderen,  deinen Bauch frei ließ, egal zu welcher Jahreszeit. Du kamst gerade von einer Klassenfahrt. In Dachau seid ihr gewesen. „Warum habt ihr es nicht verhindert?“, hast du geschrien, uns mit deinen Blicken deine ganze Verachtung entgegen geschleudert, so dass wir uns elend und schuldig fühlten. Und trotzdem war ich unglaublich stolz auf dich, so wie auf deinen Großvater. Stolz auf dein Gerechtigkeitsgefühl, auf deinen freien, rebellischen Geist. Hörst du, was ich sage, meine Kleine?“ Jetzt ist ihre Stimme weich und warm, so wie früher, wenn sie mich an Weihnachten auf den Schoß genommen und mir eine Geschichte vom Nikolaus erzählt hat.

Ich atme tief durch. „Ja, ich erinnere mich. Es tut mir leid, wenn ich dich …“

„Lass gut sein, es ist das Recht der Jugend, anzuklagen. Wir hätten es nicht geschehen lassen dürfen.“ Erschöpft lehnt sie sich zurück und schließt einen Moment die Augen. Wischt mit der Hand darüber. Als wolle sie die Bilder wegwischen, die sie quälen. Dann lässt sie die Hand sinken, legt sie auf die Armlehne ihres Sessels. Ich lege meine darüber. Kalt fühlt sie sich an und zerknittert, so wie das Papier des Kuchenpäckchens, das ich ihr mitgebracht habe.

„Ja Großmama“, sage ich und fühle mich immer mehr wie ein Kind. Klein, ängstlich, schutzlos.

„Sie marschieren wieder. Mit Fackeln und Trommeln. So, als wären sie nie weggewesen“ Großmama hat die Augen wieder geschlossen. Alt sieht sie jetzt aus, alt und zerbrechlich. Plötzlich richtet sie sich auf in ihrem Sessel. Schaut mich an. „ Arbeit macht frei, stand über dem Eingang. Du hast es selber gesehen. Freiheit … .“ Sie schlägt mit beiden Händen auf die Lehnen ihres  Ohrensessels. „Jetzt ist es eure Sache. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“

 

Version 2

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