Von Lauretta Hickman

 

Wer von uns auf die Idee kam, weiß ich nicht mehr. Vermutlich ich. Offenes, weites Wasser, so wie Gelegenheiten, Grenzen auszutesten, übten seit jeher unwiderstehliche Anziehung auf mich aus. Hier bot das Leben mir beides.
Was ich sicher weiß: Chiara hatte gleich viel Lust darauf. Sie schlug noch ein Sicherheitsnetz vor. Das fand ich gut. Roland war für einen Termin über Mittag in der Chora, also erzählten wir seinem jungen Assistenten, dem hübschen Henry, von unserem Plan.

Chiara war kleiner und deutlich schmaler als ich, nachgerade dünn. Ich hingegen rang täglich um ein annehmbares Gewicht, mich dem Druck der Worte meiner Agentin beugend: „Du musst abnehmen, ich muss dich an Männer verkaufen.“ Was mir als Tochter einer Feministin und Schauspielerin ein geerbtes Dauerdilemma bescherte, jedenfalls bis zu meinem Ausstieg. Aber das ist eine andere Geschichte. Mein Körper war also ein ganzes Stück üppiger als Chiaras, wozu wiederum nicht viel gehörte, dünn, wie sie war.
Dies sollte einer der Tage werden, an dem sich das als unbedingter Vorteil erwies.

Dreiundzwanzig Jahre alt, befand ich mich in meinem ersten eigenen Urlaub in meinen ersten Theaterferien meines ersten Festengagements, stolz mit meiner ersten Gage gebucht – lauter Premieren. Gelandet war ich auf Skiathos, der idyllischen Sporadeninsel, für vier traumhafte Wochen. Und stieß bald auf die Surf- und Segelschule von Roland, einem sehnigen, dunkelbraungebrannten Kölner Mitte Vierzig mit blitzblauen Augen, der sich auf der Insel seinen entspannten Lebensmittelpunkt eingerichtet hatte; meist bekleidet mit knapper und nur fast rutschender Badehose über kaum Gesäß.

Seine Schule bot mir eine gute Gelegenheit, die Surfkenntnisse aufzufrischen, deren Grundlage ich mit siebzehn am Walchensee gelegt hatte. So war ich fast täglich an diesem Strand, gewöhnte mich auf dem Brett zügig an den enormen Unterschied zwischen geschlossenem Süßwassersee und offenem Meer, genoss die Sonne und hatte Spaß. Mit einer wilden, jungen und internationalen Truppe. Wir lachten und aßen zusammen, beaufsichtigt von Roland, „Kindergärtner wider Willen“. Sonst gab er sich ja eher jung und cool, schien auch so zu wirken auf die Rentner und üblichen Touristen, die bei ihm mieteten oder „mal Surfen ausprobieren“ wollten. Mit uns war er der geschmeichelt-grummelige Daddy, genoss aber durchaus die vibrierende, ausgelassene Lebendigkeit im gemeinsamen Abhängen. So manches Mal half er einem der Jungspunde nach zu viel hinterhältigem Ouzo zum Hotel.

Wie gesagt, Roland war nicht da an diesem Vormittag.

„Falls wir nach zweieinhalb Stunden noch nicht zurück sind, kannst du dann mal mit dem Katamaran nach uns schauen?“

Das erschien uns großzügig genug. Dieses Miniarchipel war, gefühlt, einen Kilometer entfernt. Sogar mit einer kurzen Sonnenpause dort sollte das locker zu schaffen sein.

Henry nickte. „Viel Spaß!“

Wir bereiteten uns vor. Ich blieb „oben ohne“, Chiara wechselte von Bikini zu Badeanzug und zog Plastiksandalen an.
Los ging es!

Das Wasser nahm uns weich auf. Perfekte Temperatur, nicht zu warm, nicht zu kalt; Wellen flach und sanft. Von oben wärmte die Sonne. Ideale Bedingungen also für einen Schwimmausflug zu dem nahegelegenen Inselchen, auf dem, wie es hieß, außer zahlreichen Vogelarten niemand lebte.

Beides sportliche Frauen, schwammen wir vergnügt vor uns hin, wechselten zwischen Brustschwimmen und Kraulen, manchmal auch in die Rückenlage, um uns vom Salzwasser tragen zu lassen.

Die meiste Zeit waren wir gleich auf, mit Tendenz von Chiara, voran zu schwimmen. Wir ließen Raum zwischen uns. Das erlaubte jeder das freie Gefühl, hier alleine zu sein – und doch gab es die Sicherheit der anderen. Unser Geplauder zu Beginn – auf Englisch, ich konnte kein Italienisch, Chiara kein Deutsch – verebbte bald.

Der salzig metallene Geruch; das Rauschen um uns; das Gluckern, das unsere Körper verursachten; das Glitzern auf dem Grünblau, Wärme von oben und tiefe, genüssliche Bewegungslust – ich schwamm mich zügig in eine Art Trance. Den meditativen Flow des zweiten Atems.

Schon eine Weile im Meer, wir hatten bereits gut „Meter gemacht“, rief Chiara auf einmal: “Look – sie kommt gar nicht mehr näher!“ Tatsächlich: die Insel schien jetzt in gleichbleibender Distanz zu flimmern. Trotz unserer unermüdlichen Bewegung auf sie zu.

Wir erhöhten also unsere Anstrengungen. Bis Chiara meinte, sie begänne, leicht müde zu werden. Mir ging es noch nicht so. Allerdings war das Wasser inzwischen deutlich kälter als in Ufernähe, weshalb wir es nun vorzogen, uns zu bewegen, statt tragen zu lassen.

Nach einer gefühlten Stunde und eher zufällig entdeckten wir den Katamaran der Segel- und Surfschule, wie er durch die Wellen glitt. In unendlich weiter Entfernung.

„Merkwürdig. Wir sind doch strikt geradeaus geschwommen?“, rief ich zu Chiara hinüber.

Die Küste lag direkt hinter, das Inselchen vor uns. Der Katamaran war viel zu weit rechts davon, zeitweilig sogar dahinter verschwunden. Vor allem aber: er war viel zu weit weg. Für uns kleiner als ein Legostein. Klar, was das bedeutete: bereits mehr als zweieinhalb Stunden im Meer. Uns der völligen Aussichtslosigkeit dessen bewusst, schrien und winkten wir wie verrückt.

Als der Katamaran abdrehte und zurück zur Küste segelte, wurde Chiara panisch.

„Wir sind zu weit links,“ schrie sie. „Wir müssen weiter nach rechts.“ Und bog umgehend in einem 90°- Winkel ab, um annähernd besessen Richtung Katamaran zu kraulen. Ich war erstaunt, wie viel Kraft sie auf einmal hatte.

Mir war das nicht so recht. Ich hatte das Gefühl, wenn wir uns jetzt trennen, ist jede von uns gefährdeter, als wenn wir zusammen blieben. Wiederum wollte ich mich instinktiv nicht anstecken lassen von ihrer Panik. Und ihre Idee schien mir falsch. Die Insel war inzwischen näher als das Ufer.

Ich schwamm also weiterhin geradeaus. Wie ich annahm. Ab und an sah ich hinüber zu Chiaras blondem, kleiner werdenden Kopf. Seltsamerweise hatte ich keine Angst. In mir entstand auch keine Idee von „wir sind verloren“. Mein Körper schwamm einfach weiter, ruhig und stetig. Die Insel schien mir nach wie vor nicht entgegenzukommen.

Keine Ahnung, wie lange wir versuchten, uns auf offenem Meer in verschiedene Richtungen voran zu schieben. Mein Zeitgefühl hatte sich aufgelöst. Chiara sah ich nur noch punktuell, inzwischen deutlich weiter entfernt, oft von Wellen verdeckt, aber nicht näher an dem Inselchen als ich, schien mir. Von der Küste ganz zu schweigen.

Die Kälte spürte ich zwar. Aber meine Schwimmtrance dimmte sie gut.

Plötzlich entdeckte ich, so unvermittelt wie irreal, vor mir etwas. Unterhalb des Horizonts, noch ziemlich weit entfernt und faktisch aus dem Nirgendwo kommend. Ein… winziges graues… Motorboot? Das Meer wogte hier viel höher. Hinter Wellen verschwindend, ein wenig größer erneut auftauchend, wieder verschwindend  – war das eine Fata Morgana?
Dieser Gedanke bescherte mir den ersten Hauch von Furcht.

Ich hatte den Eindruck, es steuert grob in meine Richtung. Als ich glaubte, tatsächlich drei Gestalten an Bord ausmachen zu können, begann ich zu schreien und zu winken.

Ohne Effekt.

In etwa achtzig Meter Entfernung, links und eigentlich schon an mir vorbei Richtung Küste, drehte das Boot plötzlich. Und nahm Kurs auf mich auf. Kurz darauf starrten mich drei italienische Gentlemen über dessen grauen Gummirand an. Überrascht und bestürzt, mitten in Meer, derart distante von der Küste eine Bionda vorzufinden, die hier da sola so vor sich hinschwamm.

Ich wurde ins Boot gezogen. Jetzt erst bemerkte ich meine ausgelaugten Muskeln. Sehr unangenehm, nahe einem Ganzkörperkrampf. Umgehend verwies ich radebrechend auf Chiara, deutete in die Richtung, in der ich sie vermutete. Sehen konnte ich sie nicht mehr.

Zittrig war ich damit beschäftigt, mich auf dem Bootsrand festzuhalten und gleichzeitig mit subtil empfundener Peinlichkeit meinen Oberkörper zu bedecken. Als ich den dreien vermittelte, von wo wir losgeschwommen waren, reagierten sie mit ungläubiger Fassungslosigkeit. Einer zeigte mir seine Armbanduhr: Viereinhalb Stunden seit Aufbruch.

Chiara fanden wir kurz darauf. Auch sie wurde ins Boot gezogen. Sie konnte nur noch am Bootsboden liegen, zähneklappernd, heftig atmend, mit blauen Lippen und einem aschfahlen Gesicht unter der Bräune. Ihr Körper bebte unkontrolliert.

Die Länge der schweigsamen Rückfahrt machte uns die geschwommene Strecke erst so richtig bewusst.

Wir wurden von den drei Signores so nah wie möglich an den Strand gebracht. Dankbar und wacklig rutschten wir vom Bootsrand, erschöpft, mit brennenden Muskeln und papierener Haut.

Uns kamen ein blasser Henry, Roland und drei von der Truppe entgegengelaufen. Roland sprach kurz mit den Gentlemen, die anderen stützten Chiara, der die Kraft fehlte, sich im brusthohen Wasser selbst Richtung Ufer zu bewegen. Dort fiel sie direkt in den Sand, nicht mehr ganz so fahl und blaulippig, aber sichtlich noch massiv überstrapaziert.

Über uns brach ein Donnerwetter herein, das seinesgleichen suchte. Roland war wohl erst vor kurzem zurückgekommen und bekam die Geschichte zunächst von Henry erzählt, einschließlich des vergeblichen Versuches, uns zu finden. Henry als sein Assistent hatte den ersten ordentlichen Anschiss erhalten. Aber über uns entleerte sich der gefühlte Zorn Gottes, während wir mit Decken, Wasser und Traubenzucker erstversorgt wurden. Gerade, dass er uns nicht geohrfeigt hat. Ich befürchtete, er bekommt gleich einen Herzinfarkt.

„IST EUCH EIGENTLICH KLAR, dass ihr zielsicher und direkt in die Region mit der tückischsten Unterströmung der gesamten Inselgruppe geschwommen seid? Bekannt für den schnellen Abtrieb aufs offene Meer? Mit ÄUSSERST geringer Chance, von der Küstenwache gefunden zu werden? Wenn jemals jemand ertrunken ist, dann HIER! Außerdem ist das die EINZIGE Gegend um die Inseln, die bekannt ist für regelmäßige HAIsichtungen.
VerDAMMTE Hacke!“

 

Das Gefühl für die damalige Gefahr fehlt mir bis heute. Unser Erlebnis hat mich dennoch tiefen Respekt vor dem Meer gelehrt.

 

 

V3 9979Z