von Claudia Grothus

 

Der Wecker piepte sich erbarmungslos in das geborgene Dunkel ihres Tiefschlafs. Bis drei Uhr morgens hatte Klara ihr Marketingkonzept ausgefeilt. Es war ihre letzte Präsentation vor Weihnachten und sie war perfekt vorbereitet.

Auf Theos Bettseite fand sie nur zerknautschte Laken. Er war schon längst unterwegs. In der Küche standen seine leere Tasse und eine Müslischale im Waschbecken. Klara räumte beides in die Spülmaschine und drückte am Kaffeeautomaten den Knopf für Espresso.

Das Koffein tat, was es sollte. Klara duschte, föhnte sich die Haare und legte einen Hauch Make-up auf. Gerade so viel, dass sie natürlich frisch aussah.

Der schmale Rock passte. Sie atmete auf. Das war knapp. Glücklicherweise waren in dieser Saison Oversized-Blazer modern. Unter der kamelfarbenen Wolle zog sie eine himmelblaue Nadelstreifenbluse an. Sie schlüpfte in die Pumps und checkte ihr Spiegelbild. Es gab nichts an ihrer Erscheinung auszusetzen – außer, dass sie übergewichtig war. Ansonsten saß jedes Haar an der richtigen Stelle.

Mit geübten Handgriffen schüttelte sie ihren Weight Loss Drink und trank ihn, an die Küchenzeile gelehnt, in einem Zug.

Sie ließ den Mantel offen, nahm ihre lederne Aktentasche und trat aus dem Haus. Im Auto war es noch kalt. Ein zäher Nebel hing über der Landstraße. Klara schätzte die Sichtweite unter 50 Meter, schaltete die Nebelschlussleuchte ein und passte das Tempo an.

Sie parkte in der Tiefgarage und lief, wie jeden Morgen, einen Umweg, um den Zebrastreifen zu benutzen. Und obwohl der Nebel nicht bis in die Innenstadt vorgedrungen war, wurde Klara von einem Autofahrer übersehen, der im letzten Moment bremste, sie aber trotzdem am linken Oberschenkel touchierte. Sie fiel auf den Asphalt und schürfte sich die Handballen auf.

Dem höchstbesorgten Fahrer, der ihr aufhalf, winkte sie ab. Nichts passiert. Sie hatte keine Zeit. Eilig strebte sie auf das Bürogebäude zu. Der Spiegel im Lift zeigte ihr einen ruinierten Mantel und zerrissene Strumpfhosen. Ärgerlich, aber sie hatte Ersatzstrumpfhosen in der Schreibtischschublade. Und den Mantel würde sie ja bei der Präsentation nicht tragen. Ihr Bein tat ein bisschen weh, aber das war nicht so schlimm. Alles okay, sie hatte das im Griff.

Sie war die Erste im Büro und so bemerkte niemand, dass sie rasch die frischen Nylons anzog. Dann startete sie ihren Rechner und stellte in der Personalküche die Kaffeemaschine an.

Die Kolleginnen erschienen fast alle gleichzeitig. Fröhlich schwätzend liefen sie an Klaras Schreibtisch vorbei. Mit vertrauter Beklommenheit betrachtete sie die schmalen Taillen und langen, schlanken Beine.

Für halb zehn war ein internes Briefing angesetzt. Das gesamte Team nahm um den ovalen Konferenztisch Platz. Corinna, die Chefin, stand am schmalen Ende und wischte über ihr Tablet.

„Meine Damen, wir haben heute ein strammes Programm. Bei Wallmann darf nichts schief gehen. Das ist der größte Fisch, den wir am Haken haben! Ich erwarte von euch allen die best Performance ever! Um halb elf wird das Fingerfood geliefert, um zwölf Uhr fahre ich mit Soraya zum Flughafen und hole die Geschäftsführerinnen von Wallmann ab. Derweil fahren Sina und Birte zum Hotel und sorgen für Blumen und Obstkörbe in den Zimmern. Klara, du bereitest den Konferenzraum mit dem Buffet vor.“

Klaras Mund hatte sich mehrfach erfolglos zu einer Unterbrechung geöffnet. Unwillkürlich hielt sie ihren Kugelschreiber in die Luft. Jetzt endlich erwischte sie eine Atempause der Chefin.

„Aber meine Präsentation, ich …“

Corinna fuhr unbeirrt fort. „Um vierzehn Uhr treffen wir alle hier ein. Ich werde das Marketingkonzept für Wallmann gegen vierzehndreißig vorstellen. Danach Champagner und Fingerfood.“

Klaras Hand mit dem Kugelschreiber sank langsam zum Tisch zurück, ihr Mund blieb offenstehen.

„Also, los geht’s. All hands on deck!“ Corinna klappte die Hülle ihres Tablets zu und verließ forschen Schrittes den Raum. Die anderen rückten ihre Stühle vom Tisch und sammelten Unterlagen zusammen.

Klara blieb sitzen. Als sich ein zufälliger Blickkontakt mit der vorbeigehenden Birte ergab, sagte sie: „Aber es sollte doch mein Marketingkonzept …“

„Das hat sie Montag gekippt und ihr eigenes genommen. Kennst sie ja. Hast du das nicht mitbekommen?“

„Ich habe montags frei,“ flüsterte Klara wie im Traum.

„Na, dann hat sie wohl vergessen, es dir zu sagen.“ Birte schaute mit hochgezogenen Augenbrauen auf Klara herab. „Keks?“, fragte sie und hielt ihr eine offene Schachtel mit Schoko-Lebkuchen hin.

Klara schüttelte den Kopf. Sie war seit einem viertel Jahr auf Diät und bekam immer noch Kekse angeboten.

Seit Oktober hatte sie an dieser Präsentation gearbeitet. Letzte Woche war von Corinna noch eine Änderung hereingekommen, die fast alles wieder über den Haufen geschmissen hatte. Aber Klara hatte das geschafft. Sie hatte die Nächte durchgearbeitet. Ihr Konzept war perfekt.

Wie in Trance schlich Klara zurück an ihren Schreibtisch und sank auf den Drehstuhl. Sie starrte auf ihren Bildschirm, wo phlegmatische Agenturlogos über einen milchigen Hintergrund rieselten. Ein ziehender Schmerz setzte sich in ihrem linken Oberschenkel fest. Niemandem fiel auf, dass sie einfach so sitzenblieb.

Das Buffet wurde geliefert, der Getränkeservice brachte kleine Wasser- und Saftfläschchen und der Weinhändler eine Kiste Champagner.

Klara saß einfach nur da.

Um zwölf war die Agentur menschenleer. Klara stand auf. Das Klackern ihrer Absätze hallte durch die Räume. Auf dem Konferenztisch standen mit Folie überzogene kalte Platten zwischen Getränkekisten, Kartons mit Sektgläsern und Serviettenpackungen. Fassungslos betrachtete Klara das Durcheinander. Noch nicht einmal die leeren Tassen vom Briefing hatten sie in die Küche geräumt.

Eine stetig ansteigende Wut wummerte von innen gegen ihre Haut. Das ging nicht. Das ging gar nicht. Sie konnte jetzt auf keinen Fall hier aufräumen.

„Wisst ihr was,“ sagte sie halblaut, „ich bin nicht eure Praktikantin.“

Sie zog eine Platte mit Kaviar-Fingerfood zu sich heran, riss ein Loch in die Folie und schnupperte.

„Und außerdem“, sie griff sich eins der Canapés, „habe ich seit drei Monaten Hunger!“

Das Häppchen verschwand in ihrem Mund. Die aromatischen Kaviarkügelchen ploppten angenehm zwischen ihrer Zunge und dem Gaumen auf. Sie setzte sich auf den Tisch und öffnete die Folie einer Platte mit Balik-Lachs. Auch lecker. Abwechselnd bediente sie sich an Kaviar und Lachs. Dann war ihr nach Bleu d’Auvergne mit Walnusshälften. Der Käse hatte die perfekte Temperatur.

Sie schob sich die Pumps von den Füßen, griff nach einer Champagnerflasche und ließ den Korken knallen. Mit dem überschäumenden Sektkelch prostete sie einem imaginären Gegenüber zu.

„Fick dich Corinna“, sagte sie und schüttete sich das ganze Glas auf einmal rein. Guter Tropfen! Ach, da war ja auch noch eine Platte mit Iberico-Braten. Schön mit so Mayonnaise-Tüpfchen dekoriert. Sie genehmige sich davon gleich fünf und klopfte bei den anderen durch die Folie hindurch die Mayo-Krönchen platt.

„Soll ja auch hübsch aussehen für den dicksten Fisch am Haken.“

Sie riss die Serviettenpackung auf und lief damit auf Strümpfen um den Tisch herum, während sie eine Handvoll nach der anderen herauszupfte und in die Luft warf.

Als Nächstes schüttelte sie die fast volle Champagnerflasche und sprühte die herausschießende Flüssigkeit im hohen Bogen durch den Raum.

Jetzt war der Moment da, wo sie das angerichtete Chaos nicht mehr rückgängig machen konnte. Sie würde achtkantig aus der Agentur fliegen, das war mal sicher.

„Ach, scheiß doch drauf!“

Sie schlüpfte mit champagnerdurchweichten Strümpfen in die Schuhe zurück, holte ihre Aktentasche aus dem Büro und zog den verdreckten Mantel an. Auf dem Weg zum Ausgang hielt sie kurz inne, griff sich eine weitere Flasche Champagner und steckte sie in ihre Manteltasche. „Denen wird sowieso nicht mehr nach Feiern zumute sein.“

Draußen regnete es. Ein Stück die Straße hinunter blinkten bunte Lichter und sie hörte Musik. Ein Weihnachtsmarkt. Kurzentschlossen stapfte Klara ohne Schirm durch den kalten Regen. Sie lief an den hell erleuchteten Buden entlang, hasste die Holzengelchen und Nikoläuse und kaufte für vierzig Euro eine Engadiner Nusstorte. „Wenn ich schon pleitegehe, dann wenigstens richtig.“

Dann saß sie vor Kälte zitternd im Auto und fluchte lauthals über die Wasserfontänen, die ein LKW erzeugte, den sie mit 100 kmh auf der Landstraße überholte.

Durchnässt, mit ramponierter Frisur und fleckigem Mantel hinkte sie schließlich vom Parkplatz zur Haustür. Die Prellung an ihrem Bein war durch das Laufen nicht besser geworden. Sie ließ ihre Taschen im Flur auf den Boden gleiten und warf den Mantel oben drauf.

Im Schlafzimmer schmiss sie den Blazer aufs Bett und fummelte sich ungeduldig ihre Bluse samt Minimizer-BH von den Rippen. Rock und Strumpfhose flogen hinterher. Auf ihrem Oberschenkel breitete sich ein riesiger blauer Fleck aus. Sie zog sich eine verbeulte Jogginghose und den größten Pulli über, den sie finden konnte. Jetzt kamen die Tränen.

Als Theo in der Abenddämmerung nach Hause kam, fand er Klara heulend auf dem Sofa. Zuerst schluchzend, dann mit jedem Wort zunehmend kichernd, erzählte sie ihm alles, bis sie sich beide vor Lachen bogen.

„Klara, ich bin so stolz auf dich!“ Theo kriegte sich gar nicht mehr ein.

„Ja, toll“, antwortete sie. „Jetzt habe ich aber keinen Job mehr!“ Sie musste heftig niesen. „Und erkältet habe ich mich wahrscheinlich auch noch.“

Eine halbe Stunde später saßen sie einander gegenüber in einem heißen Schaumbad. Auf dem Wannenrand standen Kerzen, zwei halbvolle Champagnergläser und ein Teller mit Nusstortenkrümeln.

Theo legte seine Arme um ihre Schultern und gab ihr einen badwannenwassernassen Schaumkuss.

„Keine Sorge“, sagte er breit grinsend. „Irgendein Job da draußen wartet genau auf dich!“

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