Von Anne Klisch

Immer wieder komme ich zur Klippe. Stehe, warte und sehe hinunter auf das unruhige graue Wasser, das an den Felsen zerbricht. Es spritzt und gurgelt, aber eigentlich ist es ganz leise. Ich stehe da und frage mich, was passiert, wenn ich einfach einen Schritt weiter gehe. Fallen oder fliegen. Oder ist das nur eine Frage der Perspektive?
Das ist die Unvernunft, würde meine Mutter sagen. Töricht, lächerlich und dumm.

Du weißt doch, was passiert.
Du fällst. Menschen können nicht fliegen.

Menschen vielleicht nicht, aber Seelen eben schon. Das sagt schließlich auch Joseph Freiherr von Eichendorff:
Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.
Wenn er das sagt, muss es ja stimmen.
Das ist die Unvernunft, die sowas denkt. Mutig an den falschen Stellen.

Was soll dich denn tragen, wenn du fällst?
Meine Flügel, denke ich. So wie Ikarus. Nur fliege ich nicht so weit hinauf.

Menschen können nicht fliegen.
Und wenn doch?
Im Kalender neben dem Computer steht: Alle sagten „das geht doch nicht“. Aber einer hat das nicht gewusst und hat es einfach gemacht.
Vielleicht kann ich das sein.

Ich trete näher an den Abgrund heran. Es ist die Sehnsucht, die mich dazu verleitet. Kalter Wind zerrt an meinen Haaren. Weiche Erde unter meinen Schuhsohlen bröckelt und springt hinunter in die Tiefe. Fällt. Fliegt.
Luft strudelt sich in meiner offenen Jacke. Das ist der Himmel, der mich zu sich ruft. Weites endloses Blau.
Schönheit. Freiheit. Unendlichkeit.
Ich kann die Flügel auf meinem Rücken fühlen. Den leichten Druck an den Schulterblättern. Zartes Gewicht, das nach unten zieht. Nur ein Schritt noch und ich bin frei. Ich breite einfach meine Flügel aus.
Fliege meine Seele nach Hause.

Menschen können nicht fliegen.
Aber was, wenn doch?
Man sagt ja, wer es nicht versucht, der hat bereits verloren.
Also mache ich den Schritt. Breite meine Flügel aus. Ich springe ab. Und dann ist da diese Stimme, die, sonst leise, plötzlich schreit: Welche Flügel?!

 

 

V3 (2022)