Von Amelie Honsuki

 

Schlagartig ist es dunkel. Blitze zucken vor der Scheibe meines Fensters in der Dachgaube durch die Luft und werden fast zeitgleich von einem bedrohlichen Grollen und Scheppern begleitet. Steht das Unwetter ohne Regen direkt über uns wie ein Damoklesschwert? Fast übertrieben, dass zu unserem Vorhaben genau die richtige Außenkulisse wie in einem B-Movie existiert.

Meine beste Freundin Kathie ist der Ansicht, dass es sich um das Erlebnis schlechthin handeln wird. Und wir müssten es unbedingt einmal ausprobieren. Um was es geht? Das Lecken, ja heute wollen wir das erste Mal lecken.

Begleitet von einem besonders hellen Flash zieht sie den Schuhkarton unter meinem Bett hervor, den sie da vorhin positioniert hat. Feierlich hebt sie den Karton auf ihren Schoß. In ihm rappelt es. Der Karton bewegt sich, als wolle er in ihren Händen hin und herspringen oder sich losreißen. Man könnte aber auch annehmen, sie hätte ihre neuen „Triple S“ von Balenciaga darin geparkt, um sie mir jetzt zu zeigen und diese führen ein magisches Eigenleben. Ich trinke einen Schluck der Limo und bemerke, wie meine Hände zittern.

„Also ich lecke nicht daran“, wage ich einzuwerfen. Kathie verdreht die Augen. „Du musst, so ist es abgemacht. Und wir können endlich mitreden!“

Sie hebt den Deckel des Kartons, der übrigens mit dem Markenzeichen einer bekannten Sportmarke verziert ist. Keine Luxussneaker! Wieder wackelt die Pappschachtel. Also darin lebt etwas recht munter. Ich jaule kurz mit einem schrillen Ton auf, da der Deckel ja nun entfernt ist, kommt mir die Nähe bedrohlich vor.

Kathie bugsiert ein pulsierendes Stück Fleisch hervor. Es bewegt sich heftig, fast schaukelnd in ihren schalenförmig geöffneten Händen. „Halt es fest!“, rufe ich, und habe die Befürchtung, es springt mir direkt in den Schoß.

 Warum wir vorhin schwarze Kerzen an und das Zimmerlicht ausgemacht haben, erklärt sich mir nicht. Jedoch flackern die Lichter entsetzlich, scheinen vom Docht wegfliegen zu wollen, als es wieder taghell durch den Vorgarten blitzt und sofort donnert, als würde das Jüngste Gericht einberufen. Ungefähr genauso komme ich mir auch vor. Mein Herz klopft. Aber ich will keine Schwäche zeigen.

Das Tier in Kathies Händen quakt jetzt. Also ich kenne ja diese Froschgeschichte aus den klassischen Märchen. In denen soll die Prinzessin ja immer wieder den Frosch küssen, bis sie ihn vor Ekel an die Wand wirft. Aber darum ging es hier inhaltlich nicht, obwohl ich denke, das Märchen muss nach einer Leckzeremonie entstanden sein. Und ich würde das „An-die-Wand-werfen“ am liebsten jetzt vorziehen.

Der Schuhkarton steht wieder am Boden, ausgelegt mit grünen Blättern und ich denke, man sollte das Tier da wieder reinsetzen und vor allem diesen Deckel wieder drauf tun. Vorsichtshalber würde ich zum Verschließen auch noch einen Haargummi opfern.

Der Fleischklops in den Handflächen meiner Freundin ist scheinbar sehr aufgeregt. Der Bauch des Tieres spannt und löst sich, dabei hebt es sich an und wird größer, sackt wieder in sich zusammen. Sicher atmet der Lurch so heftig oder sein kleines Herzchen springt vor Angst fast aus dem Körper.

Kathie klärt mich auf, dass es kein Frosch ist, sondern eine Kröte. Ich denke: ‚Yummi, wird ja immer leckerer!‘ Ja, sicher ist das Kleine sehr jung und darum noch so zierlich, aber trotzdem um so wirksamer. Mit dem Zeigefinger gleitet sie der Kröte über den Rücken und hebt die Fingerkuppe langsam an. Ein Faden aus Schleim oder Gel zieht sich wie eine klebrige Verbindung zwischen Krötenhaut und Menschenfinger. Mir wird übel, ich unterdrücke ein Aufstoßen. Fehlt nur noch ein schmatzendes Geräusch, um mich endlich zu vertreiben. Es blitzt wieder! Im Zimmer ist es für einen Moment taghell wie im Flutlicht der Kreisliga. Eine Sekunde. Dann bricht wieder drohendes Grollen über uns zusammen.

Kathie positioniert die Kröte vor meine Nase und flüstert: „Nun leck mal, einmal den Rücken lang, danach erlebst du einen irren Traum, manche behaupten so kommt auch der Prinz in dein Zimmer“. Bei diesem Gewitter und den flackernden Kerzen, frage ich mich, ob das vor mir wirklich meine beste Freundin ist. Ich warte, dass ihre Augen sich zu drehen beginnen, wie bei der Schlange Kaa im Trickfilm.

Ich drehe mit einem Gemisch aus Ekel und Mitleid für das Tier angewidert den Kopf weg.

„Wo ist denn die Kröte her?“, will ich wissen und habe automatisch unseren Biomarkt im Sinn. Denn ich kann mir kaum vorstellen, dass Kathie sie an der Bushaltestelle vor unserer Wohnsiedlung gefunden hat. Das kleine blähende Lebewesen sieht nicht wie ein einheimisches Tier aus. Kathie hebt nur den Zeigefinger an ihre Lippen. Warum startet sie eigentlich nicht mit Lecken?

„Prost!“, rufen wir im Chor und trinken einen kleinen Shot, warten auf Mut.

Ich nehme die Kröte in die Hand und betrachte sie von allen Seiten. Ich rieche an ihr. Sie stinkt gar nicht. Hatte ein Gemisch aus Schlamm und Fisch erwartet. Dann, ganz mutig, fahre ich mit meiner Zunge einmal über den gesamten Rücken des Tieres und spüre wie meine Zunge den rauen Rücken fühlt. Es gibt Schlaglöcher und Bodendellen auf der Zungenfahrt.

Während ich die Kröte mit ausgestreckten Händen zurückgebe, spüre ich meine Zunge taub werdend. Schnell nehme ich eine Büchse Prosecco und trinke, es brennt im Hals und schmeckt nach Salmiakpastillen. Ich hasse Salmiakpastillen. Meine Zunge spüre ich nicht mehr und kaue prüfend auf ihr herum, dabei verdrehe ich die Augen. Kathie lacht laut und schaukelt dabei auf meinem Bett hin und her. Nicht auszudenken, wenn sie meine Mutter alarmiert, die uns wegen unserer Hausaufgaben in Ruhe lässt. „Nicht so laut!“

Nun reibt Kathie ganz zärtlich über den Rücken der Kröte, die ein unkendes Geräusch von sich gibt, dass wir uns beide erschrecken. Es bildet sich ein neuer Schleimfilm, kräftiger als zuvor. Dann leckt auch sie hastig über den Tierrücken, verzieht schlagartig das Gesicht und schüttelt ihre freie Hand in meine Richtung, mich antreibend, ihr etwas zu trinken zu reichen. „Zerquetsch das Biest nicht!“

Ich halte ihr den Rest in der rosa Dose hin. Das Rosa schimmert wie ein Schatz. Die kleine Büchse funkelt pulsierend, ihre Färbung changiert zwischen rosa und violett und Gold und Silber, wie ein Edelstein, der sich nicht entscheiden kann, welche Färbung ihm steht.

Ich blicke Kathie an, die nun auch pulsiert und ich mache mir um ihre Konturen Sorgen, denn sie verbiegen und verzerren in alle Himmelsrichtungen. Ich muss lachen, aber gleichzeitig habe ich Angst. Was passiert hier, gerät die Welt aus den Fugen und der Zusammenhalt aller Atome löst sich auf? Es blitzt wieder sehr passend und das Donnern klingt nun wie rhythmische Percussions. Es klopft in meiner Brust dazu im gleichen Takt, dass ich den Eindruck gewinne, ein Alien will sich aus meinem Körper heraustanzen. Kathie sieht mich an und fragt: „Was los mit dir, Babe, alles klaro oder was?“. Das echot aber so hohl, tief und dumpf, dass es dem Röhren eines Hirsches gleichkommt. Ich muss erneut lachen und kippe nach hinten.

Dann höre ich, dass Kathie reklamiert: „Ich merke gar nichts und du drehst voll ab, was los?“

Ich erhebe mich wieder, will sprechen, aber kann meine Kiefer nicht bewegen. Ich spüre, dass mein Körper schwebt. Ich im Schneidersitz über dem Bett, habe gar keine Berührung mehr mit dem Untergrund.

Kathie greift die Kröte erneut aus dem Behältnis und hebt sie vor ihren Mund. Die Kröte protestiert mit einem schnarrenden Laut und pumpt sich auf. Kathie öffnet ganz langsam, wie wenn zwischen ihren Lippen unsichtbarer Kaugummi klebt, den Mund und streckt ihre Zunge heraus. So, als wolle sie die Zunge ganz aus dem Mund heraus bugsieren. Das rosa Muskelfleisch schiebt sich weiter und weiter ins Freie, die Mundhöhle wird immer größer. Die Kröte springt! —– Und verschwindet! Ich hoffe, sie ist vorbei gesprungen am Kopf.

Kathies Augen werden so groß wie Suppenteller, meine sicher auch. Dann grunzt sie einem Wildschwein gleich, hält sich den Hals mit beiden Händen fest. Sie schlingt und schluckt, öffnet den Mund erneut weit.

Ich zucke mehrfach zusammen und zittere nun. Ich bebe. Sie windet sich auf dem Boden. Dann halten wir beide inne und starren uns in die Augen. Wir atmen nicht. Es blitzt und donnert wieder zur Untermalung. Wir springen auf. Kathie hält sich den Bauch und ruft: „Das Scheißvieh bewegt sich in mir, ich sterbe!“

Ich reiße ihren Hoodie und das Shirt hoch, versuche zu erblicken, ob sich etwas bewegt. Nichts zu sehen. Und dann tatsächlich, als wollte die Kröte aus ihrem Magen, durch die Körperdecke springen, erscheinen immer wieder Ausbuchtungen! Wir schreien im Chor.

Mir wird extrem übel. Ich beuge mich zur Seite und erbreche mich. Leider nicht korrekt in den anvisierten Papierkorb. Grün schleimiges Erbrochenes klebt nun am Schreibtisch und glitzert um den Abfallbehälter herum. Kathie wimmert, wälzt sich auf dem Boden, als meine Zimmertür aufgerissen wird. Ein Prinz!

Ich schaue intensiv gegen das Flurlicht, das wie ein Strahlenkranz um den Körper des Prinzen wabert und bewege mich einfach nicht mehr, lächele, grinse wohl eher, hoffe, dass mein Gesicht nicht noch Reste des Verdauungstraktes zeigt und nichts in meinen Haaren klebt.

Dann erhebt der Prinz donnernd seine Stimme, die meiner Mutter!

„Was ist denn hier los, seid ihr wahnsinnig geworden?“ Dann sacke ich zusammen.

Später werden wir beide im Krankenhaus wach, man hat uns die Mägen ausgepumpt und zur Überwachung dabehalten. Unsere Mütter sitzen an unseren Betten mit versteinerten Mienen, wie Torwächter vor dem Tempel mit dem Endfeind eines Computerspiels. Unsere Väter patrouillieren vor den Betten auf und ab. Die Garde!

Die Kröte hatte man in der Zimmerecke gefunden und an unseren Zoo übergeben. Sie war eine Südamerikanerin.

Ich überlege, wie ich diesen Vorfall so schnell wie möglich vergessen könnte. Vielleicht mit magischen Pilzen?

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