Von Sabine Esser

„Jetzt nicht, die Olsch kalbt“, brüllt Papa, als Klein-Michi ihn und Opa zum Mittagessen aus dem Stall holen soll. Zurück in der großen Wohnküche fragt er die Mama, was „kalben“ ist.

„Die Kuh bekommt ein Baby“, erklärt Susanne.

„So, wie du mich?“

„Ja, genau so. Du bist auch aus meinem Bauch gekommen.“

„Mit ’nem Strick oder freiwillig?“

„Nein, deine Mami war im Krankenhaus“, füllt sie ihrem Jüngsten den Teller.

„Der ist ja so doof. Der weiß nicht mal, wo die Babies herkommen“, mampft seine Schwester mit vollem Mund.

„Wohl weiß ich das! Dann kommt der Tierarzt“, trotzt Michi und tritt Tanja gegen das Schienbein.

„Aua! Mama, der hat mich getreten!“

Susanne muss Frieden stiften: „Der Tierarzt kommt immer zur Besamung und nur manchmal zur Geburt, wenn’s eben schwierig ist. Heute können das Papa und Opa aber allein. Pudding?“

 

Ein paar Tage später bringt der Postbote eine Einladung zu einer Tauffeier. Wie immer werden die wirklich wichtigen Themen beim Mittagessen besprochen.

„Müssen wir da wirklich hin“, will Thomas das Ganze abbiegen.

„Da geht kein Weg dran vorbei. Überleg‘ doch mal, die beiden sind ja nicht mehr die Jüngsten, und endlich ist sie nun doch schwanger geworden.“

„Ja ja, die Studierten. Da dauert das immer etwas länger. Und dann sind sie zu alt, und nichts läuft mehr. Ist doch gegen die Natur“, brummt Opa.

„Das kannst du so nicht sagen. Die können doch frühestens ab Mitte dreißig überhaupt an Kinder denken. Wenn sie überhaupt einen Job bekommen“, vermittelt Susanne.

„Dafür verdienen sie dann so viel Geld, dass sie sich künstliche Befruchtung und so was leisten können. Jetzt kriegen sogar Fünfzigjährige Kinder. Wie alt ist die Lehrerin eigentlich?“, hakt Thomas nach.

„Einundvierzig oder so, hab‘ ich beim Stammtisch gehört. Immerhin noch unter fünfzig“, mümmelt Opa.

„Gott sei Dank ist bei uns alles normal, Susi-Maus“, gibt Thomas Susanne einen Tuschi.

„Doch nicht bei Tisch“, streichelt sie seinen Unterarm.

Opa muss das letzte Wort haben: „Jedenfalls ist das in dem Alter problematisch.“

 

Tanja und Michi haben höchst interessiert zugehört.

„Was ist Befruchtung?“, will Michi wissen.

„Besamung, du Blödmann“, blafft Tanja und stößt Michi ihren Ellenbogen in die Seite.

 

Die Kleiderfrage ist schnell erledigt. Thomas passt noch immer in seinen dunkelblauen Freud-und-Leid-Anzug, an Susannes dunkelgrauem Kostüm ist nichts auszusetzen. Tanja hat zugenommen und braucht sowieso ein neues Kleid und neue Schuhe, was sie sehr erfreut. Michi bekommt eine neue Jacke. Und er besteht darauf, dass er eine knallrote Fliege zu seinem Hemd tragen darf; aus irgendeinem Grund hat er sich in diese textile Überflüssigkeit verliebt.

 

Der große Tag ist da. Opa bleibt zuhause, um auf den Hof aufzupassen.

Letzte Ermahnungen, bevor die Vier aus dem Auto steigen, um in die kleine Kirche des Nachbarortes zu gehen:

„Ihr steht auf, wenn die anderen aufstehen und setzt euch hin, wenn die anderen sich hinsetzen. Geredet wird nicht. Und gesungen wird nur dann, wenn die anderen auch singen. Alles klar?“

Die Kinder nicken beeindruckt und zupfen an der ungewohnten Kleidung.

 

Nach vielem Händeschütteln und „seid ihr aber groß geworden“ sitzen die beiden verunsichert neben ihren Eltern auf der schmalen, harten  Holzbank. Michi tut so, als könne er in dem schwarzen Buch lesen, das auf dem Pult vor ihm liegt.

„Warst du schon mal hier“, fragt er ganz leise seine Schwester.

„Klar, zu meiner Geburt. Du doch auch, du Idiot.“

„Ich kann mich aber gar nicht daran erinnern.“

„Du bist ja auch voll blöd. Und jetzt Schnauze“, zischt Tanja überlegen.

 

Laute Musik ertönt, der Pastor spricht, die Gemeinde singt, man steht auf und setzt sich. Der Pastor hält noch eine Rede. Michi hört genau zu. Was für ein großes Glück es ist, ein Kindlein zu bekommen. Und welch‘ lange Prüfungen dieses gesegnete Paar hat ertragen müssen. Das alles hat er schon am Mittagstisch gehört. Ein Problemfall eben. Mama und Papa haben das nicht nötig, die Olsch auch nicht.

 

Dann kippt der Pastor Wasser auf den Kopf des Kindes: „So taufe ich Dich nun im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

Mit Gottvater und seinem Sohn kommt Michi klar, der Heilige Geist ist ein Problem. Einige Zeit denkt er nach: Opa hat immer Recht, und Papa ist sein Sohn, und Problemfälle brauchen Hilfe.

 

Dann hat er die Lösung und kräht begeistert in die andächtige Stille: „Das ist der Tierarzt. Der macht die Besamung und ist zuständig für Problemfälle.“

 

Das Gerede war groß im Dorf und hielt lange an. Vor allem, weil die Täuflingsmutter so auffällig errötet war.