Von Eva Fischer

Als die rote S-Bahn in der Ferne auftauchte, drehten die Fahrgäste ihre Köpfe der ankommenden Lok zu wie Sonnenblumen der Sonne. Der Zug hielt an, öffnete seine Türen, nahm alle auf. Die Menschen schienen sich untereinander nicht zu kennen, keiner beachtete den anderen oder sprach gar mit ihm. Fremde, die sich täglich zur gleichen Zeit begegneten, um abends den Heimweg anzutreten, aus diversen Büros der Stadt wieder in die Freiheit entlassen. Zwei lange Waggons boten jedem einen Sitzplatz, wenn auch nicht jedem eine Vierer-Nische für sich allein. Kaum saßen die Fahrgäste, zückten sie ihre Handys, verstöpselten sie ihre Ohren, um die unsichtbare Grenze zum unvermeidlichen Nachbarn aufrechtzuerhalten. Wenige sprachen laut in das Handy, was ihnen den Unmut der durch den Tag müde Gewordenen einbrachte. Wen interessierte schon, was man dem Schätzchen zu sagen hatte, welche Einkäufe noch getätigt werden sollten, um welche Uhrzeit man auf welchem Gleis abgeholt werden wollte? Nein, alle benötigten jetzt eine Auszeit, bevor der Abend neue Verpflichtungen einforderte.

 

Auch Nina öffnete mit ihrem Zeigefinger den Zugang zur digitalen Welt ihres Smartphones. Sie spielte am liebsten. Das entspannte sie. Sie beantwortete Fragen wie „Welcher Fluss fließt durch München?“ (was sie auch ohne die vier Auswahlantworten gewusst hätte) oder „Wo wächst der Leberwurstbaum?“ (da hatte sie mit Afrika richtig geraten, denn eigentlich konnte sich so ein wunderlicher Baum auch in Australien befinden.) Es gab neunzehn verschiedene Kategorien wie „Rund um die Welt“, „Draußen im Grünen“, „Macht und Geld“ usw. Am liebsten mochte sie „Bücher & Wörter“ sowie „Kinofilme“.

Als Schülerin hatte sie die „Quizfragen“ der Lehrer gehasst, aber hier gab es keine Noten, sondern die richtige Antwort wurde durch ein grünes Kästchen belohnt (die falsche bekam allerdings ein rotes Kästchen) und wenn man alle sechs Runden mit jeweils drei Fragen richtig beantwortete, hatte man 18 Punkte und ein perfektes Spiel, was bei Nina ähnliche Gefühle auslöste wie eine Eins Plus zu Schulzeiten.

Sie hatte sich als „Schwarze Tulpe“ eingeloggt, weil dies ihre Lieblingsblume war, andere als „Camelfilter“ (vermutlich ein Raucher) oder als „Funkuchen“ (ein kreativer Spaßvogel). Männer nannten sich schon mal gerne „Rambo“ oder „Lord“. Wenn nicht der Name, so klärte der Avatar den anderen Spieler über das Geschlecht auf. Dieser wurde von dem Spieler selbst gestaltet. Man konnte die Haarfarbe wählen, lang oder kurz, glatt oder kraus, die Augenfarbe, den Mund. Man konnte sich lustig oder hässlich machen oder sich cool einen Kopfhörer aufsetzen oder eine Sonnenbrille. Ninas Avatar war möglichst nah ihrem wirklichen Aussehen, kastanienbraune glatte Haare, haselnussbraune Augen und ein sinnlicher Schmollmund.

Am liebsten startete sie ein Spiel mit einem beliebigen, also unbekannten Spieler. Nach ein paar gemeinsamen Spielrunden versuchte man etwas über die Identität des anderen herauszubekommen, was ein Chat ermöglichte. „Hi! Wo kommst du her? Wie alt bist du?“ Und so reiste Nina mit ihren Spielpartnern digital durch diverse Städte der Republik. Dresden, München, Hamburg, aber auch kleine Nester wie Kleinkückelshoven bei… wurden etwas verschämt angegeben. Nina kam aus Essen. Das lag nicht „bei“, schon gar nicht bei Duisburg oder Düsseldorf, nein, Essen war Essen mit dem abgebröckelten Glanz einer Kruppdynastie, mindestens so hip wie Bochum, auch wenn sich der Laudatorsänger noch nicht gefunden hatte.

 

„In welcher Stadt war Meg Ryan schlaflos?“ Seattle. Nina kannte den Film.

Wie nennt man einen weiblichen DJ?“ Djetta, das klang blöd. Es war auch falsch.

Am Ende stand es unentschieden zwischen ihr und der Neuen, die sich Siri nannte. Nina drückte auf die Nochmal-Taste, schaltete jedoch das Handy aus, denn sie musste aussteigen.

 

Florian stand unter der Dusche, als Nina die Haustür aufschloss. Er sang, denn er war immer beneidenswert guter Laune. Den Dreck, den der Bürotag hinterlassen hatte, spülte er einfach in den Gulli. Probleme ignorierte er. Damit war er immer gut gefahren. Auch Ninas Probleme ignorierte er am liebsten.

„Alles gut?“, fragte er mit dem Duschhandtuch um die Hüften. Er drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Die Frage war rhetorischer Natur gewesen. „ Du, Tülpchen…“ (Sie hasste diese Anrede und verdammte den Tag, wo sie ihm ihre Lieblingsblume anvertraut hatte.) „Andy hat angerufen. Ich treffe mich mit ihm gleich zum Billard. Du bist mir doch nicht böse?“ Er setzte sein Sonnyboylächeln auf, dem keiner widerstehen konnte. „Ruf  Kati an! Macht euch einen netten Mädelabend!“ Er gab ihr einen Klaps auf den Hintern, als sei der Vorschlag besonders hip. „Ich komme schon zurecht. Mach dir keinen Kopf wegen mir“, bemühte sie sich um eine neutrale Stimmlage. Zur Belohnung bekam sie noch einen Kuss, dieses Mal mit Zunge, ein Versprechen für später? 

Nina wollte Kati bestimmt nicht anrufen. Die war gerade im Babymodus, weil im dritten Monat schwanger. Lieber wollte Nina spielen oder chatten mit Unbekannten zwischen Thrill und Unverbindlichkeit. Sie schaltete ihr Handy wieder ein.

 

„Wie heißt ABBAs Debütalbum?“ Nein, nicht Arrival oder Waterloo. RingRing. Ein Punkt für Nina. Siris Avatar zeigte eine Frau mit einer Meckifrisur und neugierigen Kugelaugen.

Fragen und Antworten ploppten hin und her wie Tennisbälle. Mal gewann Nina, mal Siri. Da bekam Nina eine Chatnachricht von Siri.

„Hi, meine Liebe! Es macht Spaß mit dir.“

„Ja, du machst es mir nicht leicht.“

„Du willst doch etwas Spannung oder?“

„Spannung hatte ich heute schon. Ich suche Entspannung.“

„Doofen Tag heute gehabt? Erzähl, wenn du möchtest.“

 

Die Nacht wurde weich und samten. Auf leisen Sohlen stahlen sich die getippten Wörter davon, flogen wie schwarze Blüten in das Nirwana der Anonymität, versanken im Meer der Zeitlosigkeit.

Nina schrieb von ihrer Kollegin, die den Chef um den Finger wickelte anstatt zu arbeiten, von ihrem Kollegen, der das durchschaute, aber nie Stellung für sie bezog, von ihrem Chef, der ihr  zwar ab und zu ein charmantes Lächeln schenkte, aber einfach nicht einsehen wollte, dass Nina mehr arbeitete als ihre Kollegin, die sich heute mal wieder einen Arzttermin hatte genehmigen lassen, um morgen mit einer neuen Frisur zu erscheinen und vom Chef noch dafür Komplimente bekommen würde.

Der Groll bröckelte langsam von Ninas Seele. Siri blieb fest an ihrer Seite wie der Abendstern am Firmament. Manchmal stellte sie ein paar Fragen.

 

Später hörte Nina den Schlüssel im Haustürschloss.

„Spielst du noch immer Quizduell?“ Florian zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

„Du hast doch bis jetzt auch Billard gespielt?“, konterte sie.

„Aber doch nicht allein!“

„Ich auch nicht.“

„Ich meine, mit realen Personen!!“

„Glaubst du, ich spiele mit Geistern?“

„Das ist doch alles nur Fake“, murmelte Florian. Als er sah, dass Nina wütend wurde, nahm er sie in die Arme.

„Komm, wir gehen ins Bett!“

Die Chats mit Siri wurden zur täglichen Gewohnheit. Das Bedürfnis wuchs, sich jemandem mitzuteilen, Banalitäten oder Gemeinheiten des Alltags auszutauschen. Wochen vergingen. Florian schüttelte den Kopf, wenn er sie mit dem Handy sah, während sie einen Spielfilm guckten. „Ich muss mich wohl auch bei Quizduell anmelden“, neckte er sie. „Das würde dir nicht gefallen. Ach, lass mir doch meinen harmlosen Spaß!“

Er ließ, aber meldete sich beim Fußballverein an.

 

Nina stutzte, als sie eines Tages sah, dass Siri einen neuen Avatar hatte. Warum war Siri plötzlich ein Mann? Das konnte doch nur ein Joke sein. War es nicht. Nina schmollte, sprach von Vertrauensbruch. Doch sie spürte, wie sehr ihr die Chats mit Siri fehlten.

Er nannte sie „meine Königin der Nacht“ und Nina schrieb weiter. Worte, von denen sie nicht wusste, ob sie Traum oder Wirklichkeit waren oder seit wann sie in ihrem Innersten existierten. Es war so prickelnd, dass sie manchmal dachte, sie könne den Arbeitstag nicht überstehen, ohne nachzusehen, ob er eine Botschaft für sie hatte. Aber Siri schrieb immer erst, wenn sie in der S-Bahn saß.

Florian fand zunehmend außerhäusig Aktivitäten. Nina verabschiedete ihn mit einem flüchtigen Kuss, weit entfernt, ihm Vorwürfe zu machen.

„Ich möchte dich sehen! Komm mich in Berlin besuchen!“ schrieb Siri eines Tages. Hatte Nina wirklich gedacht, sie könnte für immer ihre Traumwelt vor der Realwelt schützen? Wollte sie nicht auch selbst eine andere Dimension der Nähe?

Florian kündigte ein Trainingswochenende mit seinem Fussballverein an und so teilte Nina Siri ein konkretes Datum mit, wann und wo sie sich treffen könnten. Auf dem Alexanderplatz vor der Weltzeituhr, Samstag um 16 Uhr. Sie würde morgens den Zug nach Berlin nehmen.

Sie hatten beschlossen, keine Fotos voneinander auszutauschen. Wer das Innere kennt, erkennt auch das Äußere.

 

Es war Freitag. Ninas Kollege schien gut drauf zu sein. Auch Nina freute sich auf das bevorstehende Event.

„Was machst du am Wochenende?“, fragte sie Gerrit in Feierabendlaune.

„Ich fahre nach Berlin. Du wirst es nicht glauben, ich habe eine tolle Frau beim Quizduell kennengelernt.“

„Ich wusste gar nicht, dass du Quizduell spielst!“

„Was ist los, Nina? Freust du dich nicht für mich?“