Von Lea Naum

Fee Isolde ist genervt. Seit Jahren hockt sie in diesem düsteren Kabuff und erfüllt am Fließband Wünsche. Isolde reibt sich den schmerzenden Nacken. Sie bräuchte dringend Bewegung. Doch am Abend ist sie derart kaputt, dass sie alle Reigen absagt, obwohl sie weiß, dass ihr ein bisschen Geflatter auf der Waldlichtung guttäte. Ihr fehlt schlicht die Kraft. Zu allem Überfluss klafft im zarten Gewebe ihres rechten Flügels ein Loch. Entweder Mottenfraß oder sie ist im engen Büro irgendwo hängen geblieben. Ein Desaster! Sie müsste das Loch stopfen lassen, aber die Abteilung Flugbereitschaft ist auch zur Wunscherfüllung abgezogen. Schlapp und lustlos drückt Isolde auf den Knopf.

 

Bing! Im Warteraum leuchten die 6.223.278.581 und die Zimmernummer 2345 auf. Hans springt auf. Seit über 20 Jahren wartet er auf diesen Moment! Hans ist gründlich vorbereitet. In den letzten Jahren schrieb er unzählige Listen, sortierte seine Wünsche, erstellte Reihenfolgen, änderte sie, strich Wünsche und fügte neue hinzu. Er ließ sich coachen, machte eine Psychoanalyse, befragte eine Wahrsagerin, die Sterne und einen Uhu. Auch wenn die letzten drei Konsultationen seinem ansonsten analytischen Vorgehen zutiefst widersprachen, wollte er keine Möglichkeit ungenutzt lassen. Fakt ist: Er gab sein Bestes und heute ist er sich sicher! Absolut! Sein sehnlichster Wunsch ist …

 

Entschlossen öffnet Hans die Tür zu Raum 2345. Oh Gott! Hans steht wie versteinert. Die Fee! Ihre Wimpern verdunkeln wie seidige Vorhänge ihre Augen. Ihre zarten Finger über der Tastatur gleichen den Fühlern eines Schmetterlings. Die langen blonden Haare umspülen wellig wie das Meer ihren Oberkörper. Hans wüsste gern, ob sie sitzt oder schwebt. Das kann er nicht feststellen. Der Rest von Fee Isolde ist von einem aschgrauen Schreibtisch verdeckt.

Hans legt mit zittriger Hand die Wartemarke auf den Schreibtisch. Fee Isolde nimmt keine Notiz davon. Sie schaut durch ihre Wimpernvorhänge auf den Bildschirm. Dann ihre Glöckchenstimme: »Sie sind Hans Klee. Ihren Wunsch bitte!« Hans räuspert sich. Er muss sich konzentrieren. Unbedingt! Doch sein Hirn gleicht einem schwarzen Loch. Nur absurde Geistesblitze wie Pandabär und Tomatenmark erhellen es kurzzeitig.

»Ihren Wunsch bitte!« Fee Isoldes Glöckchenstimme bimmelt stärker. Hans hört sie wie aus der Ferne. Er öffnet den Mund. Vergebens. Er hat keine Worte, die er hinausschicken könnte. Seine Augen haben sich an Fee Isolde festgesaugt.

Die Augen der Fee kleben am Bildschirm. Die Stille macht sie stutzig. Sie wendet ihren Blick zu Hans. »Hören Sie, Herr Klee, ich arbeite hier nach Leistung. Ich habe nicht ewig Zeit!« Dabei wirft sie energisch ihre Haare nach hinten und entblößt ungewollt ihren rechten Flügel.

Hans entdeckt das Loch sofort. In seinem Hirn verschalten sich ihm unbekannte Impulse. Es kommt zum Kurzschluss. Aus seinem halb geöffneten Mund purzeln die Worte: »Ich will fliegen können!«

Fee Isolde nickt und wendet sich sofort wieder dem Rechner zu. Geschwind tippt sie den Wunsch mit ihren Schmetterlingsfühlerfingern ein. Enter! »Ok. Das war`s. Ihren Zugangscode bekommen Sie per Post. Vielen Dank für Ihren Besuch!«

 

Hans weiß nicht mehr, wie er an diesem Tag nach Hause gelangte. Seit Wochen sitzt er in der verdunkelten Wohnung. Er, der alles plant und nichts dem Zufall überlässt, er hat es versaut. Den einzigen Wunsch in seinem Leben! Verzockt, vergeigt, vermasselt! Der Brief mit dem Zugangscode liegt zwischen zerbröselten Paprikachips und Bananenschalen auf dem Küchentisch. Was soll er damit? Wozu sollte das Fliegen nütze sein? Es gibt Hubschrauber, Flugzeuge, Drohnen, Raketen und Ballons. Kein normaler Mensch wünscht sich was, das er schon hat! Was zum Teufel war in ihn gefahren? Wieder und wieder lässt er die Szene im Wunschministerium vor seinem geistigen Auge ablaufen. Die Fee, ihre Wimpern, ihre grazilen Finger, die welligen Haare und ihre Glöckchenstimme und … das Loch in ihrem Flügel und das schwarze Loch in seinem Hirn.

    

Fee Isolde hat es geschafft. Sie darf Überstunden abbummeln. Nun liegt sie im Dämmerlicht auf ihrer Lieblingslichtung im Gras. Wegen des löchrigen Flügels musste sie den Bus nehmen und über eine Stunde laufen. Jetzt genießt sie den schweren Duft des feuchten Mooses, hört das sanfte Rascheln des Laubes und das Zwitschern der Vögel. Sie spürt, wie ihr Nacken sich entspannt. Erinnerungen steigen in ihr auf.

Früher lagen hier die Menschen und träumten vor sich hin. Sie kam lautlos angeflattert und küsste den Träumer sanft auf die Wange. Der wünschte sich spontan ein Pferd, die ewige Liebe seiner Angebeteten oder eine nie endende Fleischwurst.

Heute ist daraus ein Markt geworden. Institute und Agenturen, Coaches und Analytiker kümmern sich darum, dass sich jeder Mensch das passende Bedürfnis erarbeitet. Zudem gibt es den gesetzlich zugesicherten Anspruch auf Erfüllung eines Wunsches. Da sind Außentermine nicht mehr drin. Fee Isolde entweicht ein Seufzer. Zum ersten Mal bedauert sie, unsterblich zu sein.

 

Die Ravioli sind alle. Hans weiß, dass er was essen muss. Es ist spät. Wenn er sich nicht beeilt, macht der Supermarkt zu. Widerwillig zieht Hans sich an. Es dämmert, als er vor die Haustür tritt. Nach wenigen Schritten spürt er einen Stoß in den Rücken. Ehe er sich umdrehen kann, packt ihn ein scharfer Aufwind unter den Achseln und hebt ihn an. Hans steigt höher und höher. Er ist wie gelähmt. Arme und Beine steif von sich gestreckt, schwebt er über dem Dach seines Hauses. Dann dreht der Aufwind ab. Hans fällt vornüber und stürzt ein paar Meter ab. Er schreit aus vollem Hals. Eine handwarme Böe weht heran, fängt ihn auf, trägt in weiter und höher und lässt ihn in den Schoß eines Hauches fallen. Der wiegt ihn sanft hin und her, bis ihn ein Wirbel an sich reißt, ihn dreht und schleudert, dass ihm schwindelt. Ein Aufwind bekommt ihn zu fassen, der ihn bis unter die Wolken hebt. Dort ergreift ihn ein eisiger Luftstrom und zieht ihn rasend schnell hinaus aus der Stadt. Über den Feldern schnappt ihn ein gemäßigtes Lüftchen und trägt ihn gemächlich weiter, bis über den Wald, wo ihn ein Fallwind übernimmt und auf einer Lichtung sanft absetzt. Er landet direkt neben Fee Isolde.

 

»Sie haben doch bestimmt Ihr Nähzeug dabei, Herr Klee?« Fee Isolde klimpert mit ihren langen Wimpern, dass Hans den Luftzug spüren kann. Er ist zu benommen, um zu antworten. Was ist mit ihm passiert?

»Das Nähzeug, Herr Klee! Sie haben es immer dabei. Es ist in der Innentasche Ihrer Jacke!« Die Glöckchenstimme! Hans fasst wie in Trance in seine Jackentasche. Er zieht drei wasserdichte Tütchen heraus. Seine Notfallsets. Es gibt ein Tütchen mit Pillen gegen Kopfschmerz, Durchfall, übermäßige Aufregung und Fieber. Das zweite Tütchen enthält das Nähzeug und einen Satz Sicherheitsnadeln. Im dritten Tütchen liegt ein Zettel. Auf dem hat Hans seine Blutgruppe und die Handynummer seines Anwalts notiert.

 

  Fee Isolde greift mit ihren Schmetterlingsfühlerfingern zielsicher nach dem Tütchen mit dem Nähzeug. »Sie müssten mir mal helfen und den Flügel ein wenig nach vorn halten«, sagt sie. Hans nickt mechanisch. Vorsichtig greift er nach Isoldes seidigem Flügel. Der fühlt sich mollig und weich an. »Ja, der ist echt, mit Leben drin«, sagt Fee Isolde, als könne sie seine Gedanken lesen.

 

Hans` Schockstarre löst sich langsam. »Ich bin geflogen«, stammelt er. »Das hatten Sie sich doch gewünscht« sagt Fee Isolde mit schnippischem Unterton. Hans zuckt zusammen. Nicht auf das Schlimme! Umgehend kehren seine Lebensgeister zurück. »Aber ich hätte gar nicht fliegen dürfen, ohne den Zugangscode zu aktivieren! Das ist verboten«, empört er sich. »Sie können ja Ihren Anwalt aus dem Tütchen da anrufen!« Fee Isolde schiebt trotzig die Unterlippe vor.

Hans, Isoldes Flügel immer noch in der Hand, tritt verlegen von einem Bein auf das andere. Konflikte sind nicht sein Ding, mit Feen erst recht nicht. »Ich könnte das Loch stopfen«, schlägt er vor. »Ich weiß, Sie sind bestimmt gut darin«, sagt Isolde. »Deshalb habe ich Sie ja auch ausgesucht!« Hans ist verwirrt. »Sie haben mich ausgesucht? Warum?«

»Sie sind ein gründlicher Mann! Ich dachte, Sie stopfen meinen Flügel, dann küssen Sie mich und wir fliegen zusammen davon!« Fee Isolde lächelt dabei ein zauberhaftes Feenlächeln. Hans wird rot. »Aber Feen zu küssen, ist strengstens verboten, weil sie dann nicht mehr unsterblich sind«, stammelt Hans. Fee Isolde zuckt mit den Schultern. »Na und, was solls!«

 

Hans sitzt am Küchentisch und sortiert die Post. Das meiste ist Werbung. »Welcher Wunsch passt zu mir?«, »In 10 Minuten zum richtigen Wunsch«, »10 ausgefallene Wünsche, die garantiert noch niemand kennt«. Hans muss lachen. Isolde erscheint in der Küchentür. Sie lächelt, wedelt mit ihren Flügeln und sagt: »Komm Schatz, das Wetter ist gut. Wir machen einen Ausflug!«

 

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