Von Manuel Fiammetta

Mein Leben ist grau und trist. Meine Augen sehen die Welt wie durch einen Nebelvorhang. Die täglichen Anforderungen ziehen sich wie ein Strick um meinen Brustkorb und nehmen mir die Luft.

„Spüren Sie Freude? Lust? Fröhlichkeit? Einen Sinn?“

Nein, das Alles kenne ich nicht mehr. Meine Familie hat sich von mir abgewendet. Sie meinten, ich sei meist grundlos schlecht gelaunt, verstünde keinen Spaß mehr, hätte keine Lust etwas zu unternehmen. Nur mein jüngster Bruder hält noch zu mir, besucht mich des Öfteren und ruft mich fast täglich an um sich zu erkundigen, wie es mir geht.

 

„Zu den anderen Verwandten haben Sie keinen Kontakt mehr?“

Wie ich schon erwähnte, sie ließen und lassen mich im Stich. Ich bin ja zu nichts mehr zu gebrauchen. Funktioniere nicht mehr. Demzufolge ließen die Besuche, Treffen und Anrufe immer mehr nach, bis sie ganz eingestellt wurden.

 

„Was ist mit ihren Freunden? Wie verhalten sie sich?“

Bei ihnen ist es ähnlich. So, als ob ich ansteckend wäre und bei der Antwort auf die Frage ‚Wie geht es Dir? ‘ meine ganzen Beschwerden auf sie übertragen würde.

 

„Erzählen Sie mir etwas über ihren Tagesablauf?“

Nun, ich stehe in der Regel irgendwann mittags auf. Das kann dann um elf, zwölf oder auch mal eins sein. Wach bin ich meist schon eher, allerdings habe ich keinen Antrieb, aus meinem Bett zu steigen. Die schwarzen Vorhänge verdunkeln mein Schlafzimmer sehr gut, sodass ich kaum Licht wahrnehmen kann.

Ich sehe keinen Sinn darin, in den Tag zu starten. Einzig meine volle Blase bringt mich dazu, mich aufzurichten.

 

„Was verspüren Sie, wenn Sie morgens die Vögel hören?“

Meist nerven sie mich. Selbst bei geschlossenem Fenster höre ich sie. Früher war das anders. Ich genoss es, von den lieblichen Gesängen der Meisen und Finken geweckt zu werden. Ich lauschte ihren Stimmen und wenn ich ein wenig Zeit hatte, sah ich nach draußen und suchte sie in den Bäumen. Aber heute… Heute stopfe ich mir manchmal sogar Ohrstöpsel in die Ohren, um nichts mitzubekommen.

 

„Wie geht es dann weiter? Was machen Sie?

Wenn ich mich dann aufgerappelt und mich durch die Morgen … oder besser gesagt Mittagstoilette gequält habe, mache ich mir einen Kaffee, zünde mir eine Zigarette an und setze mich an meinen Esstisch. Von dort starre ich den Boden an. Minutenlang. Oftmals stundenlang. Eine Zigarette nach der anderen rauchend. Die Glotze läuft meist stumm im Hintergrund. Dass Geflimmer gibt mir ein wenig das Gefühl, nicht ganz so alleine zu sein.

 

„Essen Sie denn vernünftig? Haben Sie Appetit?“

Wenn ich etwas esse,  dann in der Regel abends. Der Abend ist meine bevorzugte Tageszeit. Hier geht es mir am besten und ich kann mich aufrappeln, etwas zu kochen. Vorausgesetzt, ich habe etwas Essbares zu Hause.

Denn meistens ist es so, dass ich gar nicht raus gehe. Mein Bruder ist dann so lieb und bringt mir etwas mit, wenn er einkaufen geht. Allerdings kann er natürlich nicht immer. Er ist der Einzige, der mich versteht. Ohne ihn…

 

„Was wäre ohne ihn? Taschentuch?“

Vielen Dank.

Ohne meinen Bruder, wäre ich wohl schon lange nicht mehr hier.

 

„Was genau hat Sie nun zu mir geführt?“

Das ist eine unfassbare Geschichte und ich hoffe, dass ich mich verständlich ausdrücke.

Es war an einem der Tage, an denen ich mal raus gegangen bin. Ich musste.

Mein Bruder war mit seiner Familie eine Woche im Urlaub und ich hatte schon drei Tage nichts zu essen, außer ein paar Scheiben trockenes  Brot und eine Dose Ravioli. Also machte ich mich fertig und lief zum nächstgelegenen Supermarkt. Hier erledigte ich zügig meinen Einkauf. Ich wollte schnellstmöglich wieder weg  von den Leuten.

Als ich dann, mit meiner vollen Einkaufstüte in der Hand, den Supermarkt verließ, strahlte die Sonne in mein Gesicht und ich verspürte für kurze Zeit ein wohliges Gefühl, welches ich von früher kannte und schon lange nicht mehr verspürte.

Das Café gegenüber machte plötzlich einen freundlichen Eindruck.  In meiner Erinnerung sah ich mich mit meinen Schwestern und meiner damaligen besten Freundin dort sitzen und gemeinsam lachen. Der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee und süßen Teilchen strömte mir in die Nase. Er konnte aber nicht aus dem Café kommen, denn dafür war es zu weit weg. Ich musste ihn mir eingebildet haben. Ich entschied mich, da rüber zu gehen. Mal wieder am Leben teilzunehmen. Nachdem ich an dem hintersten Tisch Platz genommen und bestellt hatte, war meine ganze Freude und dieses schöne, unbeschwerte Gefühl schon wieder weg. Ich wollte nur noch raus und nach Hause. Die ganzen Leute um mich herum störten mich und ich fing sogar an, sie zu hassen. So, wie ich meine Familie für ihr Verhalten hasste. Außer meinen Bruder natürlich.

Man musste mir diesen Gefühlszustand anscheinend angesehen haben, denn ein Mann kam auf mich zu, den ich vorher nicht registriert hatte.

Er streckte mir seine Hand hin. Ich gab ihm Meine ein wenig widerwillig. Seine Hand fühlte sich warm an und sein Druck war fest.

Er verriet mir, dass er mich eine Weile beobachtet hatte und sich schließlich entschloss, mich anzusprechen.

Ich wollte ihm zunächst sämtliche, mir in dem Moment einfallenden Kraftausdrücke um die Ohren hauen, doch es kam nur ein ‚Warum? ‘ aus mir heraus. Der Mann setzte sich zu mir und erzählte aus seinem Leben, von seinen psychischen Problemen und davon, wie er sie losgeworden ist. Er berichtete mir, dass mein Auftreten ihn in Gedanken an Zeiten erinnerte, in denen es ihm nicht gut ging. Am Ende sagte er schließlich das für mich Entscheidende:

‚Akzeptieren Sie, was Ihnen angetan wurde. Akzeptieren Sie, dass Sie nun eine schwere Phase durchmachen. Wenn Sie den Hass von sich stoßen, wird Ihnen beides noch leichter fallen. Schaffen Sie das, werden Sie ihre Betonschuhe ausziehen und wieder fliegen können. ‘

Ein warmer Schauer lief mir über den Rücken in den Po und von dort in die Beine bis in die Zehenspitzen. Ein Kribbeln auf meiner Kopfhaut folgte.

Er verabschiedete sich von mir und hoffte, dass wir uns mal wiedersehen.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wahrscheinlich sah ich mit meinem weit aufgerissenen Mund und ungläubigen Blick ziemlich dämlich aus. Ich trank meine Tasse Kaffee mit einem großen Schluck  aus und ging schnellen Schrittes nach Hause.

 

„Was ist dann passiert?“

Ich hatte tierischen Hunger. So einen Appetit kannte ich schon lange nicht mehr. Ich dachte fortwährend an die Worte des Mannes und schrieb sie mir auch auf.

Aber das war noch nicht alles. Am nächsten Morgen wurde ich von meinem juckenden Rücken wach. Ich begann mich zu kratzen und ertastete etwas Seltsames. Erschrocken sprang ich aus dem Bett und stellte mich vor den Spiegel. Während ich mich verrenkte, erblickte ich kleine Flügelansätze rechts und links auf meinen Schulterblättern.

 

„Was ging Ihnen dann durch den Kopf?“

Mir kamen sofort die Worte des Mannes im Café in den Sinn und meine Augen füllten sich mit Tränen. Auch das war ein Gefühl, welches ich seit vielen Monaten nicht mehr kannte.

 

„Warum fingen Sie an zu weinen?“

Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht genau. Es war wohl eine Mischung aus Freude, Wut, Angst, Erkenntnis. Mir wurde klar, dass ich den Hass aus meinem Körper verbannen muss. Er hat mich zerfressen und in den Zustand der Hilflosigkeit und Ohnmacht versetzt. Ich fing wohl unterbewusst am Abend vorher schon damit an. Deshalb wuchsen mir die Flügel. Die Worte des fremden Mannes haben in mir etwas bewirkt. Sie haben mich zum Nachdenken gebracht.

Die Flügel wurden größer und größer. Ihre Spannweite glich der von Albatrossen und ihre Farbenpracht der von Pfauen. Ich fühlte mich freier, unbelasteter. Mehr und mehr reifte in mir die Gewissheit, das Vergangene hinter mich lassen zu müssen. Der Strick um meinen Brustkorb wurde ein wenig lockerer.

Als mein Bruder aus dem Urlaub zurückkam, besuchte er mich sofort. Ich konnte es kaum erwarten, ihm von meiner Begegnung zu berichten und meine wunderschönen Flügel zu zeigen. Er hörte sich alles gespannt an. Als ich ihm dann von den Flügeln erzählte, wirkte er ungläubig. Er traute sich aber nicht etwas zu sagen, aus Angst, mich zu verletzen. Als Beweis drehte ich mich mit dem Rücken zu ihm und hob mein Oberteil. Ich wollte, dass er die volle Pracht meiner Flügel zu sehen bekam.

‚Schwesterherz‘, sagte er, ‚ich sehe keine Flügel‘.

Seine Stimme klang ein wenig so, als ob er mich nun endgültig für verrückt erklären wollte. Ich tastete meine Schulterblätter ab und konnte die Flügel fühlen. Ich fühlte sie ganz eindeutig. Doch plötzlich schoss es mir wie ein Blitz in den Kopf. Mein Bruder konnte sie nicht sehen. Keiner konnte meine Flügel sehen. Sie waren nur für mich bestimmt. Doch ich wusste auch, dass sie nur der erste Schritt zur Besserung waren.

 

„Haben Sie die Flügel jetzt auch dabei?“

Ja. Sie werden noch solange da sein, bis ich wieder ohne sie fliegen kann und frei bin von den negativen Empfindungen.

 

„Was ist mit den Vogelgesängen? Hören Sie sie wieder gerne?“

Oh ja. Sie gelangen wieder in mein Herz und berühren es. Es ist ein tolles Gefühl.

 

„Wie fühlen Sie sich gerade?“

Irgendwie besser. Es ist schön, jemandem etwas wirklich Persönliches und eigentlich auch Verrücktes  erzählen zu können und danach nicht gleich in eine Ecke verbannt oder Schublade gesteckt zu werden.

 

„Möchten Sie die Therapie weiterführen?“

Das möchte ich auf jeden Fall, schließlich will ich wieder fliegen. Ich bin glücklich, Sie gefunden zu haben. Vielen Dank, dass Sie mir zuhören.

 

„Dann sehen wir uns nächste Woche wieder. Alles Gute für Sie.“

Ja, bis nächste Woche. Ach, was ich Ihnen noch sagen wollte… Sie erinnern mich ein wenig an den Mann aus dem Café… und das fühlt sich gut an.

Version 3