Von Eva Fischer

Namenlos zu sein, ist das Schicksal von Vierlingen. Wozu ihnen Namen geben, wenn man sie doch nicht unterscheiden kann! Individualität entwickelt sich erst später. Dann wird sich der eine als der Starke, der andere als der Schwache herausstellen. Natürlich sind auch andere Varianten möglich: der Dumme, der Intelligente, der Schüchterne, der Freche, der Verfressene, der Verwöhnte, der Temperamentvolle, der Faule, der Draufgänger, der Vorsichtige, der Eroberer, der Zurückhaltende…

Hätte man uns Zahlen gegeben, dann wäre ich die Nummer vier gewesen. Der Vorsichtige oder der Genießer. Denn nur im Mutterleib wird einem alles gegeben, was man braucht. Schutz, Wärme, Nahrung. Sobald man auf der Welt ist, wird das Leben zum Kampf. Es geht der Run auf den besten Platz um die Muttermilch los. Vier Brüder, einst friedlich vereint, werden zu Konkurrenten.

Der Vierte hat das Nachsehen. Ich war immer zu spät, was hieß, meine Brüder wuchsen und gediehen, während ich eher mickrig und mager blieb. Vielleicht auch ein Protest gegen das unfreiwillige Hinausgeworfensein, aber ich machte mir –hungrig zwar- meine Gedanken über die neue Welt.

Hatten wir schon Philosoph als Variante?

 

Meine neue Umgebung maß 20 Quadratmeter, hatte ein vergittertes Fenster, das Ausblick in einen Garten bot, wo ein Baum stand, blattlos und winterkarg. Ab und zu lugte die Sonne hervor oder zogen Wolken vorbei, und ab und zu besuchte uns ein menschliches Wesen, das mich auf den Arm nahm, liebevoll kraulte und die Stirne sorgenvoll runzelte.

Ja, ich war ein Sorgenkind, bis der Mensch eine List ersann, meine Brüder wegsperrte, so dass ich ungestört Zugang zum Manna der Glückseligen bekam, mir alle Zeit der Welt lassen konnte, um mich zu erquicken und zu laben. So holte ich das Wachstum meiner Brüder auf. Doch noch immer gab es keine Namen, weil wir wieder mal identisch aussahen mit kleinen, runden, nackten Babybäuchen.

 

Wir lernten laufen, was auf vier Beinen keine wirkliche Herausforderung an das Gleichgewicht darstellte. Den anderen fangen und schon mal testen, ob er als Beutetier taugt, verlangt schon mehr körperliche Ertüchtigung, der ich mich allerdings entzog. Für meine Brüder galt ich als verpimpelt und nicht ebenbürtig seit meiner Sonderstellung am Futterplatz, wurde schlicht ignoriert, durfte nicht mitspielen, was mich aber weiter nicht grämte. Ich war zum Einzelgänger geboren trotz meiner drei Brüder.

 

Ich erkundete mein Umfeld, den Rasen, den Baum, der mittlerweile knospte, hörte den Vögeln bei ihrem Konzert zu. Einmal traf ich ein Wesen auf vier Beinen- noch kleineren als meinen- mit dunklen Knopfaugen und zitternden Barthaaren. Meine Brüder stürzten sich mit lautem Gebell auf dieses Wesen, dem aber die Flucht durch ein schmales Loch gelang. Ich freute mich darüber und gewann die Einsicht, dass Kleinsein durchaus förderlich sein kann.

 

So hatte ich mich an das neue Leben außerhalb des Mutterleibs gewöhnt, aber was dauert schon ewig?

Eines Tages kam eine Frau in moosgrünem Kleid und mit kastanienbraunen Haaren. Sie schaute auf meine sich mal wieder balgenden Brüder und dann auf mich, der ich etwas gelangweilt in der Ecke saß.

„Das ist er. Den nehme ich“, sagte sie zu der Rauhaardackel-Züchterin aus Nürnberg und wies auf mich. Ich wurde hochgehoben und der Fremden gereicht. Sie streichelte mich. Ich war so perplex über diese neue Situation, dass ich sie anpinkelte.

„Ach mein Kleiner, mal nicht so aufgeregt“, lachte sie. „Du wirst sehen, wir werden gute Freunde werden. Ich nenne dich Max.“

Ich wedelte mit dem Schwanz, hatte doch mein Dasein als Namenloser nun endlich ein Ende gefunden.

„Wie heißt du?“, bellte ich sie an. Da keine Antwort kam, beschloss ich, sie Marlene zu nennen. Wie soll man miteinander kommunizieren, wenn man nicht den Namen seines Gegenübers kennt? Um das schon mal vorwegzunehmen, wir hatten auch später keine Verständnisprobleme, auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprachen.

 

Marlene steckte mich in einen Korb und wartete auf ein schwarzes Auto, das uns zum Flughafen brachte. Diese Zusammenhänge habe ich erst später begriffen. Vorerst machte mich das Geschaukel magenkrank und ich erbrach meine letzte Mahlzeit. Marlene holte Reinigungstücher heraus und brachte alles in Ordnung. Bevor wir in das Flugzeug stiegen, deckte sie mich zu.

„Nun, schlaf schön, Max! Die eine Stunde Flug ist schnell vorbei. Und dann stelle ich dir dein neues Zuhause vor.“

 

Ich gehorchte und träumte. Ein riesiger silberner Vogel nahm uns in seinen Rumpf auf, raste mit uns vorwärts, schwang sich brummend in die Lüfte und trug uns in eine neues Land, wo es Wiesen und Wälder gab, Kaninchen zum Spielen, allerlei Leckereien zum Futtern, und keine mich nervenden Brüder mehr. Ich war jetzt Max, nicht einer von vielen, sondern der einzige für meine neue Herrin.

 

Statt auf Rasen landete ich auf Parkett, was mich arg ins Schlingern brachte, aber auf kurzen Beinen fällt man zum Glück nicht tief.

Statt Bäume sah ich hohe Regale mit beschriebenem Papier gefüllt. Bücher nannte sie Marlene und meinte, sie steckten voller Abenteuer, lustiger und trauriger Geschichten. Es kämen jetzt Leute, die diese Bücher kauften. Sie hießen Kunden und ich müsse sie gut behandeln, also sie nicht anbellen oder beißen, sondern mich von ihnen streicheln lassen.

Wer bin ich? Dachte ich etwas erbost. Eine heiße Hündin, die gedeckt werden möchte?

Marlene spürte meinen erschrockenen Blick und schränkte ein. Ich könne natürlich auch mich aus dem Staub machen, wenn mir die Leute nicht gefielen.

 

In der Mittagspause wurde der Laden geschlossen und Marlene ging mit mir in den nahe gelegenen Stadtpark. Sie führte mich an einer Leine, die meine Bewegungsfreiheit empfindlich einschränkte.

„Max, du willst den Park erkunden. Momentan sehe ich keinen Wärter, deshalb lasse ich dich von der Leine, aber,wenn ich dich rufe, kommst du zurück.“

Schau mir in die Augen, Kleines! Können Hundeblicke lügen?

 

Wer konnte auch ahnen,

dass dann doch ein schwarzer Labrador kam,

dass ich es für das Beste hielt, mich im Gestrüpp zu verstecken, wo mich weder Labrador noch Marlene finden konnten,

dass ein Eichhörnchen meine Aufmerksamkeit erregte, welches aber auf einen Baum kletterte, dass ich versuchte ihm zu folgen, was aber nicht klappte,

dass ich daher abrutschte und in einem Ameisenhügel landete, was mich veranlasste, reißaus zu nehmen

und dass ich dann etwas die Orientierung verlor-schließlich war das mein erster Besuch im Stadtpark.

 

Max! Der Name eignet sich nicht wirklich, wenn man einen Hund rufen möchte. Maaaaaaaax! Das A kann man lang ziehen oder melodisch trillern, aber das X macht alles wieder kaputt, als hätte man sich an einem Knochen verschluckt.

Den fand ich schließlich auch bei meiner Recherche und er beschäftigte mich eine ganze Weile. Zeitgefühl ist uns Hunden fremd, was auch durchaus seine Vorteile hat.

Jedenfalls war Marlene ziemlich aufgelöst, als wir uns wiederfanden. Das mochte auch mit dem Mann in Uniform zu tun haben, der Geld von Marlene wollte und den ich anknurrte.

„Hunde sind an der Leine zu führen! Können Sie keine Schilder lesen“, sagte er streng.

„Aber ich habe doch erst seit kurzem einen Hund“, antwortete Marlene und zog die Mundwinkel hoch, was bei den Menschen Lächeln heißt –nicht Drohgebärde wie bei uns-und was besonders zwischen den Geschlechtern zu einem Stopp der Kampfhandlungen führt. Der Mann ließ jedenfalls ab von seiner Forderung, begnügte sich mit einer mündlichen Verwarnung und ging.

Ich legte mich auf den Rücken und präsentierte Marlene meinen bloßen Bauch-unsere Demutsgeste-, was auch funktionierte, denn anstatt zu schimpfen, kraulte sie ihn, aber ich ahnte, dass ich etwas gut zu machen hatte.

 

Die Gelegenheit sollte auch bald kommen. Von meinem Körbchen aus hatte ich den Laden gut im Blick, kontrollierte, ob sich keine Diebe einschlichen, denn es gab auch Menschen, die einfach ein Buch mitnahmen, ohne es vorher zu bezahlen, so klärte mich Marlene auf. Sie kämen gern im Pulk, um die Aufmerksamkeit der Besitzerin abzulenken. Sie erzählte mir manches Mal Geschichten, wenn gerade keine Kunden da waren.

 

An einem Nachmittag kam eine Horde Kinder hereingestürmt. Ich ging sofort auf Habachtstellung. Als sie mich sahen, stießen sie spitze Schreie aus.

„Oh, ist der süß! Dürfen wir den mal streicheln? Können wir den mal ausführen? Ich hätte auch gern einen Hund, aber meine Mama erlaubt das nicht.“

„Ihr erschreckt den Kleinen, wenn ihr alle auf ihn losstürmt! Einer nach dem anderen“, sagte Marlene.

So wurde ich pausenlos von kleinen Händen gestreichelt und getätschelt, ließ es stoisch über mich ergehen. Marlene ließ ich nicht aus den Augen. Sie sollte stolz auf mich sein.

 

Eines von den Kindern hieß Sophie, war 10 Jahre alt und kam von da ab jeden Tag vorbei, um mir Hallo zu sagen. Nach einiger Zeit fragte Marlene: „Möchtest du mit Max spazieren gehen?“ Sie nickte begeistert. „Aber du darfst ihn nicht von der Leine lassen! In einer Stunde bist du zurück. Ist das ok für dich?“ Sophie strahlte.

 

Kaum hatten wir den Laden verlassen, spurtete sie los. Die Straße entlang, beim Bäcker vorbei,(wo gerade eine ältere Frau herauskam, der wir aber ausweichen konnten), beim Supermarkt vorbei,( wo ein Terrier draußen auf sein Herrchen wartete und laut bellend an seiner Leine riss, weil er sich uns anschließen wollte), beim Metzger vorbei, (wo ich am liebsten einen Informations-Riech-Stopp eingelegt hätte. Den gab es jedoch erst auf einem Spielplatz.)  Sophie setzte sich mit mir auf eine Bank und wir sahen zu, wie einige Kinder schaukelten. Nach einer Weile kamen sie zu uns

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„Ist das DEIN Hund?“, fragten sie.

„Nein, der gehört der Frau Müller aus dem neuen Buchladen, aber ich darf mit ihm Gassi gehen“, sagte meine neue Freundin stolz, die mich von da ab öfters abholte.