Von Miklos Muhi

In der kleinen Wohnung war es bitterkalt. Der Winter hatte kein Erbarmen. Helga saß mir ihrer kränklichen Tochter Gesine auf dem Schoß am sauberen Küchentisch. Sie sang ihr mit zitternder Stimme ein Kinderlied vor.

 

Gesine war übermüdet. Sie hatte letzte Nacht wieder blutiges Husten und schlief nicht gut. Wenn sie kein Fieber hatte, war sie hungrig wie alle anderen auch. Die ungewöhnliche Kälte und die Verspätung der Kohlezuteilungen verschlimmerten die Lage der Familie zusätzlich. Helga bekam Geld vom Amt. Ihr Sohn, Franz, brachte auch etwas in unregelmäßigen Abständen nach Hause. Kaufen konnte man damit fast nichts. Alles gab es nur gegen Bezugsscheine, wenn überhaupt. Den Schwarzmarkt konnte sich die Familie nicht leisten.

 

Franz ging tagsüber zur Schule. Am Nachmittag und in den Ferien half er in einer der zahlreichen Munitionsfabriken der Stadt aus. Es gab viel Arbeit, wenig Geld und keine Extrazuteilungen. Er hätte noch nicht arbeiten dürfen, aber Not kannte kein Gebot. Viele Gleichaltrige ließen einige Finger oder ganze Hände im Dienste vom Kaiser und Vaterland auf den staubigen Fußböden jener Fabriken zurück.

 

Als ihr Sohn durch die Tür trat, schaute Helga immer zuerst auf seine Hände. Sie wollte wissen, ob alles noch dran war. Das tat sie, noch bevor er etwas sagen konnte.

»Guten Tag, Mutter. Ich habe Hunger. Gibt es etwas zum Essen?«

»Guten Tag, Franz. Leider noch nicht, aber bald.«

»Warten wir wieder auf ihn?«

Helga sagte nichts und betrachtete eingehend den Fußboden.

»Ich weiß über euch Bescheid!«, schrie Franz, »Vater wird einmal nach Hause kommen! Dann werdet ihr was erleben! Dann wird euer Techtelmechtel ein Ende haben! Er wird wieder echtes Brot nach Hause bringen!«

 

Franz rannte aus der Wohnung, Richtung Abort am Ende des Flures. Unterwegs knallte er die Türe hinter sich zu. Helga wusste, dass ihr Sohn da weinte. Als der amtierende Mann in der Familie konnte er sich keine öffentlichen Tränen leisten.

 

Helgas Ehemann, der Vater von Gesine und Franz, wurde vor zwei Jahren einberufen. Er meldete sich in den wirren Augusttagen nicht freiwillig und dafür musste er einiges an Beschimpfung erdulden. Das Amt vergaß ihn aber nicht und so kam an einem Dezembertag, fast so kalt wie der heutige, der Bescheid.

 

Vater schickte regelmäßig Briefe. Seit etwa einem halben Jahr, seit der Schlacht an der Somme, kam aber nichts mehr. Dass der Versorger und Stütze der Familie irgendwo auf einem Schlachtfeld für Kaiser und Vaterland verweste, war eine Art von unausgesprochener Gewissheit. Wirklich daran denken wollte keiner. Vielleicht, wenn man nicht daran dachte, erhielt man den Schwarzen Brief vom Heeresamt nicht und Vater würde nach dem Krieg wohlbehalten zurückkehren.

 

Nach kurzer Zeit kam Franz mit roten Augen zurück.

»Nimm deine Schwester und spiele mit ihr ein bisschen, bitte.«

»Warum denn? Damit ihr ungestört seid?« Seine Stimme war bissig, aber er nahm Gesine auf seinen Schoß. Das Mädchen lächelte ihn an.

»Bitte, er kommt gleich.«

Helga verließ die Küche und ging ins Zimmer. Kurz darauf klopfte es an der Wohnungstür. Franz stand auf, schloss die Küchentür und fing an, Gesine etwas laut vorzusingen.

 

Aus dem Zimmer hörte Franz die unterdrückten Schreie seiner Mutter und das Keuchen ihres Besuchers. Er sang noch lauter. Gesine versuchte, müde mitzusingen, während die verhassten Tränen das Gesicht von Franz benetzten.

 

Nachdem der Besucher gegangen war, kam Helga in die Küche zurück. Ihr Gesicht war gerötet und in der Hand hatte sie einen kleinen Laib Brot. Franz verstummte. Er konnte nicht mehr singen, denn ihm lief der Speichel im Munde zusammen. Das Brot roch nicht besonderes gut, aber es roch nach Essbaren.

 

Helga brach es in zwei große Stücke und ein kleines Stück. Die großen gab sie ihren Kindern, den Rest behielt sie für sich. Franz aß es schnell und gierig. Helga aß mit kleinen Bissen. Gesine betrachtete das Brot mit Neugier und wachsenden Fieberrosen im Gesicht.

 

»Ich will mehr«, sagte er.

»Wir haben aber nichts mehr«, antwortete Helga.

»Ich habe heute geschuftet und ich habe immer hoch Hunger. Morgen muss ich wieder arbeiten.«

»Genau deswegen hast du das größere Stück bekommen.«

»Nein, Gesine hat das größere bekommen.«

»Das stimmt nicht.«

»Und wenn schon? Sie kann es gar nicht essen und ich muss hungern.«

»Jetzt reicht es, Franz. Was würde dein Vater dazu sagen?«

»Was würde er sagen, wenn er wusste, was seine Frau so treibt und mit wem?«

Sie antwortete nichts. Er sprang auf und riss das Stück Brot aus den Händen seiner Schwester. Gesine begann sofort zu quengeln.

»Gib ihr das zurück, und zwar sofort!« Ihre Stimme zitterte.

»Nein!«, schrie Franz. Er rannte aus der Wohnung. Diesmal hörte Helga nicht die Tür des Aborts am Ende des Ganges. Die Schritte hallten im Treppenhaus und die schwere Haustür knarrte.

 

Helga gab Gesine das eigene Stück Brot und sie fing an, lustlos daran zu mampfen.

 

*

 

Franz kam erst am nächsten Nachmittag wieder. Auf dem Kleiderhaken sah er den verhassten Hut und Mantel. Aus dem Schlafzimmer kamen dumpfe Schmerzensschreie seiner Mutter und das Keuchen.

 

Franz fühlte, wie die Wut ihn zu überwältigen drohte. Er wusste aber, dass es zu Hause wieder nichts zum Essen gab. Franz setzte sich zu den Tisch und begann laut zu singen. Nach einigen Takten verstummte er. Seine Schwester war nirgendwo zu sehen und er hörte ihre Stimme auch nicht.

 

Nach der kurzen Pause sang er noch lauter weiter. Vielleicht schief Gesine in ihrer Krippe neben dem Bett.

 

Als der Besucher gegangen war, kam Helga in die Küche. Ihr Gesicht war von Blutergüssen verunstaltet und sie hinkte.

»Was ist passiert? Was hat er getan?«

»Gesine ist gestern Nacht gestorben. Wir brauchen das Geld für die Beerdigung.«

 

Franz sagte eine Zeit lang nichts. Helga setzte sich weinend an den sauberen und leeren Küchentisch.

 

»Verdammter Krieg! Verdammter Kaiser!«, murmelte Franz.

 

Version 3