Von Daniel Büttrich

Abrupt endete der Weg. Ich hielt inne und hob den Kopf. Vor mir erschienen eine weiße Landschaft, und weit dahinter, wie ein Schiff am Horizont, ein unheimliches Schloss. Sollte ich an dieser Stelle abbrechen? Oder sollte ich mühevoll weiter durch den Schnee stapfen? Hinter mir lag eine kleine Ortschaft, meine kleine Ortschaft. Eine gemütliche 2-Zimmer-Wohnung. Hinter mir lag das Leben. Und vor mir? Vor mir lag Eiseskälte. Und der Tod?

 

Kollegen hatten mich gewarnt. Falls ich nicht bereits auf der Fahrt zu dem Dürnbergerschen Anwesen erfrieren sollte, werde ich im Schloss eines gewaltsamen Todes sterben, meinten sie. Nicht nur in der Postfiliale, meinem Arbeitgeber, im gesamten Ort rief der Name Dürnberger Furcht und Ablehnung hervor. Seit Jahren hätte sich kein Lebewesen mehr in die Nähe des Dürnbergerschen Schlosses gewagt, behauptete ein Kollege. Das Schloss sei radioaktiv verseucht, denn in den Kellern hätten die Soldaten Fässer von Plutonium zurück gelassen. Als die Familie Dürnberger das Schloss erwarb und einzog, sei das Anwesen eine Art Tschernobyl gewesen, wovon aber außer den US-Streitkräften niemand gewusst habe. Die Dürnbergers seien daraufhin allmählich zu einer Zombie-Familie mutiert. Er könne das nicht beweisen, seine Ausführungen stützten sich jedoch auf hinreichende Informationen. Ich erwiderte, dass der Dürnberger Josef junior zu Schulzeiten mein Schafkopfpartner gewesen ist. „Ein ruhiger, netter Kerl.“ „Ja ja“, sagte der Kollege. „Zur Schulzeit vom Josef war die Familie noch intakt, aber danach hat sie sich immer mehr zurück gezogen und ist im Schloss abscheulich und grauenhaft verkommen.“. Eine junge, hübsche Nachbarin, die mich nie weiter beachtet hatte, riss die Augen weit auf und wurde leichenblass, als sie das Paket mit der Aufschrift „Josef Dürnberger junior“ im Gepäckträger sah. Dann brach in Tränen aus. Warum ich mich freiwillig in die Todeszone begebe, warum ich ohne Not mein Leben wegwerfe, wo ich doch so ein liebevoller Mann sei, schluchzte sie an meiner Brust. „Ich tue nur meine Pflicht“, sagte ich. „Eine Todeszone?“, fragte ich nach. Ob ich denn gänzlich naiv sei, entfuhr es der Nachbarin. „Die Dürnbergers san Außerirdische, das Schloss is in Wahrheit a getarntes Raumschiff! Ums Schloss herum is die Todeszone! Da herrschen tödliche Temperaturen! Minus 100 Grad! Mei, Wiggerl, du warst so a Netter!“, rief und heulte sie. „Die Dürnbergers wollen über die Welt eine Eiszeit bringen und die Menschheit ausrotten. Dann folgt die Invasion der Außerirdischen. Und dann guat Nacht!“. Abenteuerlich! Grotesk! Ich hatte leichtes Unbehagen, aber ich glaubte kein Wort!

 

Ich war eine halbe Stunde auf dem schmalen, geraden Weg mit dem Rad gefahren, als mich auf einmal die Natur brutal überfiel und die Prophezeiungen meiner Mitmenschen wahr zu werden schienen. Es musste sich um einen Temperatursturz von mindestens 20 Grad handeln. Ich rang nach Atem und zog mir die Mütze tiefer ins Gesicht. Als der Weg mich überraschend und heimtückisch in eine Kurve zwang, geriet ich auf dem nunmehr glatten Boden ins Schleudern und stürzte. Ich stand auf und fasste an meine schmerzende Hüfte. Kurz erwog ich, umzukehren. Dann nahm ich das Päckchen, das für meinen ehemaligen Schulkameraden Josef Dürnberger junior bestimmt war, und legte es in den Gepäckträger. Vorsichtig schob ich das Rad über den spiegelglatten Grund. Jeder Schritt war ein Stich in die Hüftknochen, jeder Atemzug ein Stich in die Brust. Ich spürte, dass meine Lippen aufgeplatzt waren. Ich war kein wehleidiger Postbote, ich war schon über den einen oder anderen leichten Hundebiss und Sturz mühelos hinweg gekommen. Was mir jedoch die Überbringung des Päckchens an körperlichen Qualen zumutete, hatte ich mir nicht vorstellen können.

 

Die Neugierde, meinen ehemaligen Schulkameraden Josef Dürnberger junior wiederzusehen war zu stark, um das bevorstehende Ereignis abzusagen. Ich sperrte das Fahrrad ab, klemmte das Päckchen unter meinen Arm und trat in den unter meinen schweren Schritten knarzenden Schnee. Konzentriert verfolgten meine Augen, wie die Stiefel tief in den Schnee ein- und wieder auftauchten. Den Kreislauf der Schritte zu beobachten, ließ mich ruhiger werden und Kälte und Schmerzen vergessen. Und dann stand ich am Eingangstor des Dürnbergerschen Anwesens und erschrak. Das Schloss, das eben noch ein kleiner Punkt am Horizont gewesen war, baute sich nun in für meinen Verstand unbegreiflicher Weise vor mir auf. Das Dach des Gebäudes schien in den Wolken, für meine Augen unsichtbar. Nach dem zweiten Klingeln hörte ich Schritte und das Geräusch eines Schlüssels, woraufhin sich eine schwere Stahltür öffnete und mich ein junger Mann im Trachtenjanker und mit Schnauzbart anblickte. „Grüßgott!“, sprach er spürbar verwundert. „Entschuldigen Sie meine Überraschung, aber wir bekommen selten Besuch. Die Post beehrt uns nur alle paar Jahre, umso mehr freue ich mich über Ihr Erscheinen“, fuhr die gepflegte und elegante Gestalt fort. „Sie sind Herr Josef Dürnberger junior?“ „Persönlich, ja.“ „Ein Päckchen für Sie. Im Gegenzug bräuchte ich eine Unterschrift.“ „Ah, das wird das Geschenk für die Tochter meiner Schwester sein. Selbstverständlich!“ Er wollte sich bereits von mir verabschieden, als ich sagte: „Ich bin übrigens der Ludwig Erlinger.“ Josef Dürnberger junior überlegte kurz, dann umarmte er mich überschwänglich. „Ludwig, mein Schafkopfkamerad!“ Wir lachten. Er lud mich umgehend in das Schloss ein. Seit Jahren warte er darauf, einen Gast zu haben, dem er das Familienschloss zeigen könne. „Du hast doch ein wenig Zeit mitgebracht?“ Ich nickte. Ob ich mich noch an seinen Vater, den „Senior“ erinnerte. „Freilich! Der Senior!“, rief ich voller Vorfreude aus. „Er hat dich ja oft genug von der Schule abgeholt. Ein netter Vater.“

 

Wir stiegen eine opulente Marmortreppe hinauf. „Er nennt es sein Arbeitszimmer, ich nenne es sein Schafkopfzimmer“, meinte Josef schmunzelnd, bevor wir in einen dunklen Raum eintraten. Ich sah eine in mehrere Decken eingehüllte Person, die zusammengesunken in der Mitte des Zimmers vor einem Tisch mit Computer saß. Auf mehrmaliges Zurufen seines Sohnes reagierte der Vater nicht. Als wir uns näherten, sah ich, dass der Dürnberger senior mit hängendem Kopf und offenem Mund schlief und leise schnarchte. Ein Pfropfen Rotz, vermischt mit Schnupftabak, hing an seiner Nase. „Stundenlang spielt er Schafkopf am Computer, und irgendwann döst er ein! Und beim Livestream von den 1860-Spielen schläft der Bazi auch schon zur Halbzeit ein!“, schimpfte der Sohn. In stiller Übereinkunft, den schlummernden Vater nicht zu wecken, verließen wir auf Zehenspitzen das Zimmer. „Kalt ist`s bei Euch“ bemerkte ich beiläufig. „Die Heizung funktioniert nicht richtig, wir sind ständig in Decken und Mäntel eingehüllt!“, sprach Josef. Im Flur drang entfernt Musik an unsere Ohren. „Das ist Franziska, die Tochter meiner Schwester. Sie übt Cello“, klärte mich Josef auf. Er schlug vor, das „Herrenzimmer“ im Keller aufzusuchen, „ein Ort, wie geschaffen für uns beide. Kubanische Zigarren, Kellerbier, Watten! Wenn du magst?“ „Natürlich!“

 

Josef ging mit einer Taschenlampe voraus, und ich folgte ihm, eine steile und schmale Wendeltreppe hinab. Erstmals seit meiner Ankunft fühlte ich mich wie in einem Horrorschloss, während ich die wilden Gerüchte der Ortsbewohner ansonsten keineswegs bestätigt sah. „Es geht weit hinunter, bleib dich hinter mir“, bat mich Josef. Ich heftete mich an seine Fersen. Die Hüfte schmerzte immer noch sehr, und ich hatte Probleme ihm zu folgen. Ich bat Josef, langsamer zu gehen. „Wie geht es deiner Mutter?“ Sofort ärgerte ich mich über meine ungeschickte Frage, denn ich hatte eine Vorahnung gehabt. „Sie ist vor sechs Monaten gestorben“, antwortete Josef. „Es war eine Erlösung für sie. Drei Jahre Krebs, zum Schluss war es zermürbend. Für mich, mehr noch für meinen Vater, ist es sehr schwer.“ „Das tut mir leid für Euch“. Ich nahm mir vor, fortan zu schweigen. Die Wendeltreppe war kein Ort, über die verstorbene Mutter zu sprechen. Plötzlich, aus dem schwarzen Nichts heraus, drang ein entsetzlicher, spitzer Schrei an mein Ohr. Weit weg, aber nah genug, um mich zu verunsichern. Und kurz danach hörte ich erneut einen Schrei, dieses Mal ein lang gezogener. Es war nicht zu erkennen, ob er von einem Tier oder einem Menschen stammte. Meine Brust zog sich zusammen, Panik breitete sich in mir aus. Jeder einzelne Herzschlag hämmerte auf meinen Verstand ein. Ich schwieg und bestand aus Angst, obwohl ich über kein ängstliches Naturell verfüge. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Und es wurde immer kälter. „Halte durch, Ludwig, wir sind bald da. Es geht ins Erdinnere!“, lachte Josef. „Wir dürfen nur nicht versehentlich in das falsche Zimmer gehen, denn rings um das Herrenzimmer herum sind Fässer gelagert.“ An das Wort Fässer heftete sich in meinem Kopf augenblicklich das Wort Plutonium. Ich erinnerte mich, was mein Kollege mir erzählt hatte. „Ich habe etwas vergessen!“, rief ich, und schon hatte ich kehrt gemacht und hastete die Treppe hinauf. „Ludwig?!“, hörte ich. Und noch einmal: „Ludwig!?“ Ich ignorierte das Rufen. Ich hatte mit einem Schlag das Vertrauen zu Josef, das Vertrauen zu ihm und dem Dürnbergerschen Schloss, das Vertrauen in mein Unterfangen ihm weiter Gesellschaft zu leisten verloren. Einige Male stolperte ich, einige Male lief ich gegen die Wand, während ich die Schmerzen in der Hüfte ignorierte, ich verletzte mich am Kopf, und kurzzeitig hatte ich das Gefühl, dass Josef mir hinterherlief, ich dachte, ich spürte seinen Atem, und so lief ich und lief ich, bis ich schließlich die Tür zur Treppe aufstieß, durch das Schloss sprintete und das Anwesen verließ.

 

Daheim war ich mir nicht mehr sicher, ob Josef nicht Weinfässer gesagt hatte. In mein Tagebuch schrieb ich an diesem Abend nur zwei Wörter: Eiseskälte. Panikattacke. Nie wieder fuhr ich ein Paket zu den Dürnbergers aus. Aus Scham und aus Angst vor der Angst.

 

– 2. Version –