Von Ingo Pietsch

Kyra musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um über die Mauer und durch das kunstvoll verarbeitete Eisengitter zu spähen.

Viel war dort nicht zu sehen. Der ganze Vorgarten war zugewuchert mit riesigen Büschen und Bäumen, wie ein Dornröschenschloss.

Sie konnte mehr erahnen, dass die Villa einst weiß gewesen war. Hier und da schimmerte noch die echte Farbe durch. Der Rest war schmutziggrau oder abgeplatzt. Zwei riesige Säulen säumten den Eingang, endeten unter dem Dach und waren fast vollkommen mit Efeu bewachsen.

Kyra drehte sich zu ihren Freunden Nikki, Noah und Peer um.

„Wir sollen da als Mutprobe reingehen und irgendwas als Beweis mitbringen?“

Die Jungen nickten.

Nikki zeigte ihnen einen Vogel: „Ihr spinnt ja. Wisst ihr was, wenn ihr nicht mitkommt, gehe ich da auf keinen Fall alleine rein. Nachher bricht das Ding noch über uns zusammen. Ihr traut euch doch selber nicht.“

Kyra nickte.

Noah und Peer sahen sich an. Das war nur fair. Schließlich hatten die Mädels sie auch vor dem Hund gerettet, dem sie seinen Knochen geklaut hatten.

„OK, einverstanden“, meinte Peer. „Dann aber los.“

Gemeinsam schlenderten die Vierzehnjährigen am Haupttor vorbei. Die dicken alten Holzbalken waren total morsch und wurmstichig, aber immer noch so stabil, dass es kein Durchkommen gab.

Über den schmiedeeisernen Zaun konnten sie auch nicht klettern, da die Spitzen so lang waren, dass ihre Füße keinen halt finden würden.

„Warum steht der alte Kasten eigentlich schon so lange leer? Wollen die Besitzer die Villa nicht renovieren oder abreißen?“, fragte Kyra.

„Da gibt es so eine gruselige Geschichte“, begann Noah. „In den Achtzigern sind die Besitzer spurlos verschwunden. Die Polizei hat einfach alles abgesperrt und seit dem hat niemand mehr das Gelände betreten. Angeblich spukt es dort.“

„Das glaubst du doch selbst nicht“, erwiderte Nikki.

„Man hört des Nachts immer wieder Geräusche und flehendes Stöhnen“, sagte Peer.

Die Mädchen schüttelten die Köpfe.

Ein kleiner Bach führte neben der rechten Mauer vorbei. Dort begann der Stadtpark. Sie folgten dem Lauf bei strahlendem Sonnenschein bis zum rückwärtigen Teil des Geländes. Alles war so verwildert, dass man das Haus kaum noch erkennen konnte.

Die Mauer endete in einem Bauzaun, weil man dort mit dem Ausheben einer Grube für ein Mehrfamilienhaus begonnen hatte.

Die Vier übersprangen den Bach und quetschten sich durch eine klitzekleine Lücke zwischen den Zaunelementen.

Niemand sagte ein Wort, während sie sich einen Weg durch das Unterholz bahnten.

Sie holten sich etliche Ratscher und Schürfwunden mit ihrer kurzen Kleidung. Plötzlich standen sie auf einer Lichtung.

Die Sonne war verschwunden und eine Art Nebel umgab alles, was sich um sie herum befand.

Es fröstelte sie.

„Ist euch auch auf einmal so kalt?“, fragte Nikki in die Stille hinein.

Die anderen nickten und Peer klapperte mit den Zähnen. „Wir sollten lieber reingehen“, stotterte er.

Sie gingen auf einem kurz geschnittenen Rasen langsam zum Haus. Sie passierten eine Schaukel und fast neues Sandspielzeug. Die Rosen und Azaleen waren akkurat beschnitten.

Alles was weiter als fünf Meter von ihnen entfernt war, lag in diesem unheimlichen Nebel.

Das Haus kam langsam näher. Es sah aus wie frisch gestrichen. Die Fenster waren intakt. Nirgendwo zeigte sich Wildwuchs.

„Müsste hier nicht eigentlich alles zugewuchert sein?“, fragte Peer. Feine Dampfwölkchen verließen seinen Mund.

Sie erreichten die Hintertür. Sie ließ sich mühelos öffnen.

Die Vier waren jetzt in der Küche. Alles sah aus, als hätte hier gerade noch eine Familie gefrühstückt. Der Tisch war für fünf Personen gedeckt. Müsli stand auf dem Tisch und Milch. Alles frisch.

Auch hier war es kalt.

„Wir sollten hier wieder verschwinden, das ist mir doch etwas zu viel des Guten.“ Noah wollte die Tür wieder öffnen, doch sie war verschlossen. Er rüttelte daran, aber nichts passierte.

„Suchen wir einen anderen Ausgang?!“ Peer betrat den Flur.

Irgendwo spielte eine Spieluhr eine Gute-Nacht-Melodie.

Dann schlug eine alte Standuhr die volle Stunde. Es war vierzehn Uhr.

Im Flur lag Spielzeug verstreut. He-Man Figuren und My-little-Pony Ponys.

Peer hob einen Skeletor auf. „Der ist im Sammlerzustand.“

Im Wohnzimmer stand ein Röhrenfarbfernseher. Alles war aufgeräumt und sauber. Aber es war kalt.

Aus Spaß drückte Noah auf die Fernbedienung des Fernsehers. RTLplus stand in der Ecke des Bildes und Knight Rider mit David Hasselhoff lief. Sofort schaltete er wieder aus. „Sind wir etwa in die Vergangenheit gereist?“

„Moment.“ Peer zog sein Handy aus der Hosentasche uns schaute darauf. Dann hob er es ganz weit über seinen Kopf. „Nichts. Kein Balken. Nicht mal Notrufe möglich.“

„Ist das ein Walkie-Talkie?“ fragte plötzlich eine fremde jungenhafte Stimme. Alle vier sprangen ein Stück zurück und rissen die Augen weit auf.

Ein Junge in ihrem Alter stand vor ihnen. Schulterlanges Haar, Cordhose mit Schlag und kariertem Flanell-Hemd.

Er war abgemagert, das Gesicht eingefallen, die Haare fettig, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

Peer stecke sein Handy wieder weg.

„Wohnst du hier?“, wollte Kyra wissen.

Der Junge nickte. „Mit meinen Eltern und meinen Schwestern“, krächzte er.

„Und wo ist deine Familie?“, Nikki zitterte nicht nur wegen der unheimlichen Kälte, sondern auch wegen dem sonderbaren Jungen.

Jetzt grinste er irre und zeigte den Jugendlichen den Gegenstand, den er die ganze Zeit hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte: Ein blutverschmiertes Hackebeil.

Im Raum herrschte mit einem Mal eine Eiseskälte. Ein Raureif überzog alle Möbel und die Fenster waren von einer Eisschicht bedeckt, sodass man den gepflegten Garten nicht mehr sehen konnte.

Die Vier wichen noch weiter zurück und drängten sich aneinander.

„Ihr braucht keine Angst haben. Ich tue euch nichts. Kommt einfach mit, dann zeige ich euch, wo meine Familie ist“, sagte er ganz ruhig und winkte mit dem Beil Richtung Flur.

Peer und Noah hatten genug Horror-Filme gesehen, um zu wissen, dass solche Leute, wie der Junge unberechenbar waren. Vielleicht konnten sie ihn zusammen überwältigen, aber das Risiko war in diesem Moment zu hoch, als dass jemand von ihnen verletzt werden würde.

„Ok, dann gehen wir mit.“ Peer versuchte nicht zu zittern, wegen der Kälte und der Angst, die er verspürte. Er nahm Kyra bei der Hand und ging langsam an dem Jungen vorbei.

Noah tat es ihm gleich und führte Nikki in den Flur.

„Weiter, immer weiter“, kommandierte er. „Stopp!“

Vor der Tür zum Keller blieben sie stehen.

Der Junge schwang sein Beil lässig hin und her. „Lasst mich vorbei.“

Die beiden Pärchen bildeten eine Gasse und der Junge schloss die Tür auf. Er achtete gar nicht mehr auf sie und rief ins Dunkel: „Mama, Papa, ich habe Besuch für euch!“

Peer und Noah verständigten sich still mit Blicken und schubsten den Wahnsinnigen zusammen die Kellertreppe hinunter. Polternd verschwand er im Dunkeln.

Peer schlug die Tür zu und schloss sie ab. „Beeil dich!“, rief er panisch.

Noah holte, so schnell er konnte einen Stuhl aus der Küche und stemmte ihn unter die Tür.

Keinen Moment zu spät. Schon krachte Beilklinge durch das Holz.

„Ich sehe euch!“, kam die gedämpfte Stimme des Jungen durch die Tür.

Das Eis breitete sich jetzt auch im Flur überall aus.

Wie angewurzelt standen sie da.

Schlag um Schlag wurde das Loch in der Tür größer.

„Los, weg hier!“ , gab Peer den Ton an. Jetzt endlich bewegten sich auch die anderen und rannten in die Küche, aus der sie gekommen waren.

Eine Hand versuchte nach ihnen zu greifen. „Gleich habe ich euch. Was ist das?“, hörten sie hinter sich rufen. „Vater? Mutter? Nein! Ihr seid tot! Das kann nicht sein. Nein, lasst mich los. NEIN!“

Die Schläge und die Schreie verstummten und im selben Moment begann alles um sie herum zu altern.

Die Tapeten blätterten hab, das Essen auf dem Tisch verschimmelte, die Türen der Schränke fielen herunter. Gleichzeitig legte sich über alles ein Eisfilm.

Es wurde so kalt, dass die Vier sich kaum bewegen konnten.

„Seht nur, die Tür“, stammelte Noah.

Das Holz der Tür verwitterte, verzog sich und sie fiel schließlich aus den Angeln.

„Raus!“ Peer schnappte sich wieder Kyra und Noah Nikki.

Im Nu waren sie auf der Wiese. Das Gras verwelkte und vereiste. Die Welle der Kälte verfolgte sie mit jedem Schritt.

Im Laufen spähten sie zurück: Das gepflegte Anwesen verwandelte sich wieder in die Ruine, die es zuletzt gewesen war.

Als sie sich durch die Büsche zurück zum Bauzaun kämpften, wurde es schlagartig wärmer.

Äste schlugen ihnen in die Gesichter und mit einem Mal standen sie vor den Raupenketten eines Baggers. Der hatte eine Schneise gezogen, genau dort, wo sie langgelaufen waren.

Ein Bauarbeiter mit Plänen rüttelte grob an Peers Schulter. „Kinder, was macht ihr hier auf der Baustelle?“

„Wir …“, die vier schauten durch die Schneise. Wo die Villa gestanden hatte, war jetzt nur noch ein Loch. Die Bauarbeiter waren damit beschäftigt, das Fundament für einen Keller zu gießen.

„Gar nichts. Wir waren bloß neugierig. Kommt wir gehen.“

„Das will ich auch hoffen“, entgegnete der Mann schroff. „Verschwindet jetzt lieber. Eine Baustelle ist kein Spielplatz. Außerdem hat es schon eine Woche gedauert, das alte Ding abzureißen. Die ganzen Bleirohre und Asbestplatten zu entsorgen hat eine ganze Menge Geld gekostet.“

 

„Eine Woche?“ Noah konnte es einfach nicht glauben. „Haben wir das alles nur geträumt?“

„Ich mache so was jedenfalls nicht noch mal mit. Ihr habt uns bestimmt reingelegt mit eurer Show.“ Nikki gab Kyra mit einem Kopfnicken Recht.

Peer legte seine Arme um Nikkis und Kyras Schultern. „Das hat uns doch viel näher zusammen gebracht.“ Er wollte den beiden ein Küsschen auf die Wangen geben, doch sie duckten sich darunter weg und ließen ihn stehen.

„Wir sehen uns in der Schule!“, rief er ihnen nach.

Noah boxte ihn. „Du bist unmöglich.“

Peer grinste: „Ich weiß. Und auch ich hatte eine Riesenangst.“ Ein Schauer überkam ihn, trotz der warmen Sonne.

„War das jetzt echt oder nicht?“

„Wer weiß?“, Peer fasste in seine Hosentasche und holte eine fast neue Skeletor-Figur im Sammlerzustand hervor.