Von Florian Ehrhardt

„Mir ist es hier zu kalt, ich wandere aus.“

Hanna blickt mich nur still an.

Ich erwidere den Blick der Frau, mit der ich schon einen viel zu großen Teil meines Lebens verbracht habe.

Schließlich bricht sie das Schweigen. „Du würdest dich nur verfahren.“ Sie hält kurz inne, um dann zum Todesstoß anzusetzen: „Wobei, um dich zu verfahren, müsstest du dein Ziel kennen und das war noch nie deine Stärke.“

Ich zucke leicht zusammen. Wer hätte gedacht, dass sie jetzt schon die schweren Geschütze auffährt? Ich weiche ihrem Blick aus und starre in meine Suppe. Die Suppe hat so viele Fettaugen, dass sie zurückstarrt. Eklig. Aber immer noch besser als das triumphale Gesicht von Hanna.

„Jetzt hat’s dir die Sprache verschlagen, oder?“

Ich halte meinen Blick weiter auf meine Fettaugensuppe gerichtet, aber ihr überhebliches Grinsen kann ich aus ihrem schnippischen Ton mittlerweile so gut heraushören, dass ich es vor meinem geistigen Auge sehe.

„Erde an Paul! Noch da?“

Das Fenster! Ich hebe den Kopf und blicke nach draußen, in der Hoffnung, dass ich jetzt etwas Besseres sehen werde als die dampfende Fettaugensuppe. Aber meine Hoffnungen werden sofort zerschlagen, denn draußen tobt der Schneesturm immer noch. Das hätte ich eigentlich wissen müssen, denn er ist nicht zu überhören. Ich gebe einen lauten Seufzer von mir.

„Was bedrückt dich, mein Hase?“

Ich würde gerne „Du, und vor allem deine dämlichen Kosenamen für mich!“, herauspoltern, aber besinne mich eines Besseren. „Ach, glaubst du, es wird jemals wieder aufhören zu schneien?“, seufze ich also weiter, um in melancholischem Ton fortzufahren: „Dieses Jahr ist der Winter besonders kalt.“
„Und deshalb willst du gleich auswandern?“

Diesmal halte ich ihrem überheblichen Blick stand. „Nein, Hanna, deshalb wandert man doch nicht aus!“

„Na eben“, erwidert sie, „warum fängst du denn damit an?“

„Es geht mir doch nicht um den Winter!“ Ich merke, dass ich lauter geworden bin und fahre meine Stimme ein bisschen herunter. Vorerst. „Wenn es im Winter mal schneit, finde ich das ja gar nicht so schlecht. Da kann man ja mal Skifahren gehen.“

„Du warst seit mindestens zehn Jahren nicht mehr auf deinen Brettern unterwegs! Obwohl die Alpen kaum eine Stunde entfernt sind!“ Jetzt ist es an ihr, lauter zu werden. „Und deine Skistöcke sind fast noch rostiger als die Nägel, mit denen die Schindeln auf dem Dach von unserem Gartenhaus  befestigt sind.“, keift sie weiter, um dann noch anzufügen: „Das wolltest du übrigens auch seit über zehn Jahren reparieren!“

Mit diesen Worten verschwindet sie in die Küche. In zwei Minuten wird sie mit einem Kaffee zurückkommen. Den holt sie sich immer, wenn wir streiten. In letzter Zeit ist die Kaffeemaschine also fast ständig in Betrieb. Kaffee zur Suppe! Ich bin mit einem Monster verheiratet.

 

Doch Hannas Ausflug in die Küche gibt mir immerhin Zeit, meinen nächsten Schritt zu planen. Wenigstens dieses eine Mal will ich einen Streit mit ihr gewinnen. Wie habe ich es nur fast 25 Jahre lang mit diesem Drachen ausgehalten? Wieder schweift mein Blick zum Fenster und in den Garten hinaus, wo das Gartenhaus unter einer mindestens 30 Zentimeter dicken Schneedecke verschwunden ist. Genau das werde ich ihr jetzt unter die Nase reiben. „Momentan würde ich nur mit einem Tunnelbohrgerät durch den Schnee kommen, wenn ich das Gartenhaus reparieren wollte!“, rufe ich, während mir Hanna aus der Küche entgegengewackelt kommt.

„Darum geht es nicht!“ Auch sie hat sich jetzt in Rage geredet. „Im Sommer wirst du es ja auch wieder nicht tun!“, ruft sie mir entgegen, während sie sich mit ihrem Kaffee auf ihren Stuhl plumpsen lässt.

„Das ist es ja!“

„Was ist was?“

„Die Sommer hier sind doch viel zu verregnet, um im Garten auch nur die kleinste Sache zustande zu bringen! Denk doch nur an das Jahr, in dem du unbedingt Tomaten anpflanzen wolltest!“

„Und deshalb willst du unbedingt auswandern?! Weil es mir die Tomaten verregnet hat?“ Sie starrt mich ungläubig an.

Ich zucke die Achseln. „Ja und nein. Am Ende des Tages gehen mir deine dämlichen Tomaten nämlich am Arsch vorbei.“ Nicht ganz ohne Freude bemerke ich, dass meine Ausdrucksweise ihre Kinnlade immerhin ein bisschen herunterklappen lässt. „Aber was mich wirklich stört ist, wenn ich mich an einem Sommerabend gemütlich in den Garten setzen will, um ein Buch zu lesen und der Regen einsetzt, noch bevor ich die erste Seite umgeblättert habe. Oder wenn ich mir endlich mal wieder eine Karte fürs Freibad kaufe und es anfängt zu regnen, sobald ich auch nur den kleinen Zeh ins Wasser gesetzt habe! In Italien würde so etwas nie passieren!“

„Italien?“ Hanna legt eine gespielte Denkpause ein. „Paul, Italien ist ein gutes Stichwort, denn gerade heute Morgen habe ich mich gefragt, wann du wohl endlich das Versprechen einlöst, mit mir in den Italienurlaub zu gehen. Noch vor deiner nächsten Skiausfahrt?“

Ohne ein weiteres Wort steht sie auf und beginnt, den Tisch abzuräumen. Ich will erst protestieren, als sie meinen Teller schnappt, aber eigentlich gibt es ja keine bessere Möglichkeit, die kalte Fettaugensuppe loszuwerden. Ich rücke meinen Stuhl zurecht, damit ich besser aus dem Fenster schauen kann und blicke in das Schneegestöber, während Hanna beginnt, in der Küche zu werkeln. Jetzt wo sie weg ist, wirken die wild umhertanzenden Schneeflocken fast beruhigend. Und dann fällt mir ein, dass bald Hannas sonntäglicher Mittagsschlaf anstehen muss. Meine Augen beginnen zu leuchten, bis ich die Reflektion in der – selbstverständlich makellos geputzten – Fensterscheibe sehen kann.

 

***

 

Am Ende war alles ganz einfach. Klar, am Brenner hatte ich natürlich schon ein bisschen Angst, aber die beiden Carabinieri haben meinen alten, treuen Passat kaum angeschaut. Der picklige Portier in dem Autobahnhotel bei Bologna hat auch nichts Böses geahnt, als ein etwas verschwitzter Deutscher in seinen besten Jahren sein letzter Gast an einem Sonntagabend wurde. Sogar der Nieselregen, der heute am Nachmittag eingesetzt hat, als der Vesuv in Sicht kam, konnte meine gute Laune nicht verderben. Nein, ich trommele sogar im Rhythmus des italienischen Radios auf meinem Lenkrad herum, während ich den Stadtverkehr von Neapel hinter mir lasse und auf die Küstenstraße nach Sorrent einbiege. Und obwohl ich ganz klar erkennen kann, dass die Sonne wohl eher bei Ischia im Meer versinkt, folge ich der Beschilderung  TRAGHETTO/CAPRI. „Schließlich wolltest du, dass deine Asche dort verstreut wird, oder?“

Die Tupperschüssel auf dem Beifahrersitz schweigt.

„Und du dachtest wirklich, dass sich der Kachelofen nicht lohnt.“ Ich bin eben doch der Klügste.

 

Version 1

 

FEH/022019