Von Jutta Wein

Der Schnee glitzerte golden und verführerisch in der Morgensonne.

Der Hotelbetreiber hatte von Lawinengefahr gesprochen. Er solle vorsichtig sein und keinesfalls die sicheren Pisten verlassen. Henrik hatte ihn freundlich angelächelt und genickt.

Er zwang sich einen Moment zu verharren. Jeder Muskel seines Körpers war in Erwartung, drängte ihn. Nur nicht die Nerven verlieren. Er suchte im tiefen Schnee nach „seiner Piste“. Fand sie. Die heutige Abfahrt würde all die anderen übertreffen.

Ein letzter prüfender Blick, Neuschnee vom Feinsten, unberührt. Er gab sich kräftigen Schwung mit seinen Skistöcken, warf sich regelrecht in den frischen und tiefen Schnee der Vortage. Adrenalin schoss ihm ins Blut, sein Herz pochte. Sein ganzer Körper stand unter Strom. Er genoss die ersten Schwünge und kam gut in Fahrt. Ein Gefühl unermesslicher Freiheit durchströmte ihn.

 

Ihn erreichte ein kaum hörbares Zischen. Henrik wurde langsamer und drehte sich, nichts Gutes ahnend, um. Ein Schneebrett hatte sich gelöst und raste seitlich genau auf ihn zu. Panisch stieß sich Henrik mit seinen Stöcken erneut ab. Es war schon zu spät. Sinnlos. Im letzten klaren Moment schleuderte er noch seine Skistöcke von sich. Dann erfassten ihn die Schneemassen.

Henrik hatte es von seinen Skiern gerissen. „Das war es dann wohl“, schoss ihm durch den Kopf. Mit Schwimmbewegungen könne man sich oben halten, eine überlebenswichtige Information aus einem Skikurs vor Jahrzehnten, blitzte durch seinen Geist. Dann verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Immer wieder überschlug er sich, hilflos der Naturgewalt ausgeliefert. Irgendwann wurde er schließlich langsamer und die Lawine kam zum Stehen.

Es war dämmerig. Er bekam keine Luft. Nase und Mund waren mit Schnee verstopft. Er spuckte mehrmals und dann ging es wieder, das Atmen. Seine Hände wollten sich bewegen, seine Füße ebenso. Aber das ging nicht. Der Schnee lastete schwer auf ihm, unmöglich sich zu befreien. Panik stieg in ihm auf. Er versuchte sich zu beruhigen, Sauerstoff zu sparen. Schließlich begann er nach Hilfe zu rufen. Es rührte sich nichts. Minutenlang nur das Geräusch seines hektischen Atems.

Schon bald schienen Arme und Beine abzusterben. Er spürte sie nicht mehr. Langsam ging ihm die Luft aus. Seine Lungen lechzten nach Sauerstoff. Der Schnee schien aus Beton zu sein. Erst wirre und dann klare Bilder vor seinen Augen kündigten ihm den nahenden Tod an. Das war in Ordnung so. Er war bereit zu gehen. Alles machte auf einmal Sinn. Hier würde er sterben. In den Bergen, wo er früher so glücklich war. Seine Eltern und er, wie vergnügt sie hier gewesen waren. Damals im Urlaub. Er sah sie wundersamerweise vor sich auftauchen. Sie winkten fröhlich.

Mit einem Mal fühlte er ein tiefes Glück in sich, eine Geborgenheit und ein Wohlgefühl wie er es noch nie zuvor in seinem ganzen Leben gespürt hatte.

Henrik hatte das Bewusstsein verloren.

***

Er hustete, einmal und noch einmal. Öffnete vorsichtig seine Augen. Es war hell und eine vermummte Gestalt sah in an.

„Wir haben ihn“, hörte er wie aus weiter Ferne. Ein Hund bellte.

„Nein“, wollte er rufen. Kein Ton kam aus seinem Mund. Niemand schien ihn zu hören.  

Entsetzlicher Lärm. Ein Hubschrauber landete. Dann schwebte er einen Moment.

***

„Soll ich Ihre Frau anrufen?“ Die Krankenschwester sah ihn freundlich an und stellte ein Tablett mit Essen auf seinen Tisch.

Das Krankenzimmer teilte sich der Verunglückte mit einem anderen Patienten. Dieser sah nicht gerade gut aus. Ein Arm, und ein Bein des Unglücklichen lagen in Gips. Henrik setzte sich auf. Hungrig war er nicht.

„Nicht nötig.“  Henrik hatte keine Frau, keine Familie. Auch sonst sollte niemand etwas von seinem Unfall erfahren. Arme und Beine funktionierten wieder. Er hatte sich noch nicht mal ein Bein gebrochen. Was für ein Wunder.

Schon bald wurde er entlassen und nahm sein altes Leben wieder auf. Das Unternehmen seiner Eltern, der ganze Stolz seines Vaters, er musste sich darum kümmern. Seit Jahren versuchte er es zu erneuern und wieder schwarze Zahlen schreiben. Harte Arbeit war das, eine 70-Stunden-Woche erwartete ihn. Alkohol, Tabletten und seine Sekretärin, sie sollten ihm beistehen.  

Er versuchte, wieder anzukommen. Mit aller Kraft. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Nachts träumte er von den Bergen und vom Schnee. Im Frühjahr, im Sommer und im Herbst. Das Erlebte ließ ihn nicht mehr los.

Der Winter kam und mit ihm die Ungeduld. Das Drängen es war wieder da. Der Schnee kam zurück und mit ihm die Lawinen. Irgendwie schaffte er es, wieder verschüttet zu werden. Diese Mal fanden sie ihn nicht rechtzeitig.

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