Von Sabine Esser

leuchten im staubigen Grau der einstmals so schönen Stadt. Jetzt ist sie zerbombt, zerschossen, belagert. Ganz normal gekleidete, europäisch aussehende Menschen hasten durch dreckige Straßen, weichen eingestürzten Gebäuden aus, versuchen, Alltäglichkeit zu leben. Alles ist soweit geräumt, dass Militärfahrzeuge Platz haben. In der Ferne hört man Einschüsse. Das ist völlig normal.

 

Ein Mann mit weißem Hemd und schwarzem Frack stellt einen Caféhausstuhl vor eine Bäckerei, greift zu seinem Cello und beginnt zu spielen. Sinnlos, seine Aktion. Niemand bleibt stehen, sieht hin, hört zu. Alle eilen weiter. Niemand will sich erinnern oder erinnert sich, dass genau hier vor wenigen Tagen um Brot anstehende Menschen von einem Mörsereinschlag getötet wurden. Das ist vorbei. Es geht um’s Heute. Um’s Überleben.

 

Dass die Blumenhändlerin vor allem Trauergestecke anbietet … Das kann morgen nötig sein, vielleicht sogar heute, aber nicht jetzt. Schnell weiter.

 

Um den Mann mit dem Cello machen sie einen Bogen. Hätte er einen Hut neben sich liegen, um Geld zu sammeln, würde er eine fröhlichere Melodie spielen, dann, wer weiß, würden sie vielleicht innehalten. So aber nicht. Trauer – die muss warten.

 

Eine Fremde aber hört Albinonis Adaggio, das Wehklagen dieses Einzelnen. Ganz allein sind dieser Mann und sein Cello mit den Toten und Geschändeten. Mit dem Morden und Zerstören. Mit dem blinden Hass. Mit den Beerdigungen. Mit der Alltäglichkeit.

 

Sie bleibt stehen, legt ihren Rucksack neben seinen Stuhl und kniet langsam nieder. Ganz nahe sind sie sich jetzt. Sie senkt den Kopf und hört zu. Dass ihr Tränen aus den Augen laufen, nimmt sie nicht wahr. Sie hört einfach nur zu. Die Menschen eilen immer noch um die beiden herum, sehen nichts, hören nichts.

 

Irgendwann lässt er den Bogen sinken und bemerkt, dass eine Frau mit kurzen, grauen Haaren neben ihm hockt. Diese Eine hat ihn gehört, hat ihm zugehört, gehört zu ihm. Sie kniet, er sitzt, beide umarmen sich, weinen. Lange, sehr, sehr lange. Nie zuvor hatten sie einander gesehen. Sie sprechen verschiedene Sprachen, aber doch die gleiche.

 

Die Leute laufen um diese Insel herum. Blind und taub. Geschäftig.

 

Plötzlich aber setzt sich die Frau auf seinen Stuhl und beginnt zu singen. Amazing Grace, wunderbare Gnade. Kein Lied der Trauer, sondern der Hoffnung. Ihre klare, durchdringende Stimme dringt durch zu den Dahinhetzenden. Niemand auf der ganzen Welt kennt diese Stimme nicht: Joan Baez. Hier, in Sarajevo. Heute, am 27. Mai 1992. In genau diesem Moment.

 

Um sie machen die Menschen keinen Bogen, sondern nähern sich, können nicht glauben, was sie sehen und hören. Mit ihr sprechen sie. Hastig wird ein Narzissenstrauß gebunden und überreicht. Frühling scheint plötzlich möglich. Blumensträuße, keine Trauergestecke. Vielleicht sogar Frieden …

 

Version 3