Von Carina Heinreichsberger

Taavi trat aus dem Schatten des Waldes hervor. Der Schnee unter seinen Füßen knirschte bei jedem Schritt. Grinsend blickte er auf die kleine Menschengruppe vor ihm und hob das Kinn.

„Mein Beileid. Heute scheint nicht euer Tag zu sein.“

Erschrocken drehten sich die Männer um. Als sie den jungen, in schwarz gekleideten Mann erblickten, weiteten sich ihre Augen ungläubig. Taavi roch förmlich die Angst, die von der Gruppe ausging. Langsam nährte er sich. Mit jedem Schritt wurde sein Grinsen finsterer. Taavi zückte mit der Linken einen Dolch aus dem Gürtel unter seinem Mantel. Schließlich schaffte es einer der Männer sich aus seiner todbringenden Starre zu lösen, packte mit zitternden Händen sein Schwert und stürmte auf Taavi zu. Doch dieser wich gelangweilt aus und rammte dem Angreifer den Dolch in den Rücken. Ein Schmerzensschrei erfüllte den Wald. Blut tropfte zu Boden. Der Mann sackte zusammen. Sofort setzten die übrigen Männer zur Flucht an. Ihre Stimmen hallten kreischend durch die Luft, doch Taavi lachte amüsiert.

„Na, jetzt seid ihr plötzlich nicht mehr so stark!“

Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, breitete er seine schwarzen Flügel aus. Mit einem kräftigen Schlag wurde der Schnee aufgewirbelt und binnen einer Sekunde war er bei der fliehenden Gruppe angekommen. Seine Augen funkelten vor Genugtuung während er einen Mann nach dem anderen abschlachtete.

Dann verstummte die Lichtung. Nur Taavis schwarzer Mantel flatterte im Wind. Sein Grinsen war verschwunden. Der Tod dieser Männer hatte seinen Zorn nicht gestillt. Emotionslos musterte der junge Mann seine Opfer. So eine Rasse hatte es nicht verdient zu existieren. Und doch war er wegen diesen widerlichen Kreaturen aus dem Himmel geworfen worden. Nur weil er als Kind seinen menschlichen Ziehvater ermordet hatte. Dass dieser ihn und seinen Bruder geschlagen und auf brutalste Art gefoltert hatte, war für die obersten Engeln allerdings kein Grund gewesen. Menschen waren die widerwertigste Rasse auf dieser Welt und dennoch wurden sie von den Engeln in Schutz genommen.

Plötzlich schoss ein heißer Schmerz durch seinen Flügel und breitete sich über den Rücken aus. Wutentbrannt drehte sich Taavi um, um den Schützen ausfindig zu machen. In derselben Sekunde traf ihn ein weiterer Pfeil – diesmal in seinem dominanten Arm. Taavi umklammerte den Dolch fester und sofort breitete sich der Schmerz bis in die Fingerspitzen aus. Heißes Blut quoll aus der Wunde und tropfte zu Boden.

Wo verstecken sich diese Feiglinge?! Dem nächsten Pfeil wich er aus. Dort also. Zielsicher schoss Taavi in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war, den Schmerz in Flügel und Arm ignorierend. Ein kräftiger Flügelschlag beförderte ihn auf den Ast, auf dem der Schütze Deckung genommen hatte. Im nächsten Moment lag der Mann auf dem Boden, seine Beide unnatürlich verdreht. Taavi landete neben ihm. Noch war der Mann nicht tot, aber wehren konnte er sich auch nicht mehr. Der gefallene Engel legte den Kopf schief und betrachtete das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes. Sollte er ihn gleich töten oder hier liegen und erfrieren lassen? Taavi kniete sich hin, griff seinen Dolch mit der rechten und blickte den Mann tief in die Augen. Seine Pupillen waren winzig und das Weiß in den Augen stach deutlich hervor. Sein gesamter Körper zitterte – und das bestimmt nicht nur vor der schneidenden Kälte. Doch die Entscheidung war schnell gefällt und Taavis Dolch schnitt widerstandslos durch das Fleisch des Mannes. Im nächsten Moment gab er nur noch glucksende Laute von sich. Dann verstummte er.

Taavi wischte die Klinge im Schnee ab und zog sich in den Wald zurück. Eine erfolgreiche Jagd! Bereits nach wenigen Schritten spürte er jedoch, dass etwas nicht in Ordnung war. Seine Sicht verschwamm, die Adern pulsierten. Hitze schoss durch seinen für gewöhnlich eiskalten Körper. Sofort schnellte sein Blick zur Wunde am Arm. Der Pfeil steckte noch immer darin – um die Blutung im minimalen Rahmen zu halten. Doch sein Arm färbte sich an genau dieser Stelle blau. Gift! Taavi brach den Pfeil ab und riss sich die Stücke aus dem Arm. Die Menschen hatten sich geopfert, um ihn in eine Falle zu locken!

„Verdammt“, hauchte der junge Mann. Er sank auf die Knie. Ein Blick auf seinen verwundeten Flügel, offenbarte, dass sich das Gift auch dort ausbreitete. Ihm blieb nur eine Wahl. Er musste sich transformieren, denn seine Flügel würden ihm nicht mehr helfen können, sondern nur an seinen Kraftreserven zehren. Taavi biss die Zähne zusammen. Er tunkte seinen Daumen in sein eigenes Blut und zeichnete einen Kreis in den Schnee. Dann stellte er sich in die Mitte, kritzelte Runen um sich herum und legte die Hände flach auf den Boden. Die Runen erstrahlten in hellem Rot und leuchteten schließlich so stark, dass sie Taavi beinahe vollkommen umhüllten. Die Flügel zogen sich langsam in den Körper zurück. Taavi kämpfte gegen die unmenschlichen Schmerzen an und erstickte einen Schrei in der Kehle. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und er keuchte heftig. Dann sackte er kraftlos im Schnee zusammen.

Tage später erwachte der gefallene Engel. Er blinzelte einige Male und betrachtete dann mit zusammengekniffenen Augen seine Umgebung. Er befand sich in einer Holzhütte. Das Bett, auf dem er lag und die Decke, die ihn umhüllte, waren flauschig weich. Angewidert starrte er die Decke an und schlug sie von sich weg. Dabei warf er mehrere Schüsseln um, die am Boden gestanden waren. Plötzlich erschien eine junge Frau mit rotbraunem, struppigem Haar in der Tür. Erschrocken starrte sie Taavi an, doch dann legte sich ein friedlicher Blick auf ihr Gesicht. Sie näherte sich dem jungen Mann vorsichtig, griff nach der Decke und legte sie ans Ende des Bettes. Dann sammelte sie die Schüsseln auf und stellte sie auf einen kleinen Beistelltisch. „Beweg‘ dich nicht. Das Gift ist noch immer in deinem Körper…“, sprach sie mit sanfter Stimme.

Die Wärme, die diese Frau ausstrahlte, war Taavi unheimlich. Was war falsch mit dieser Frau?! Wusste sie etwa nicht wer er war? Plötzlich griff sie nach seinem Arm, doch der junge Mann schlug ihre Hand instinktiv weg.

„Fass mich nicht an!“

Doch die Frau ließ sich nicht beirren. „Ich muss jetzt deine Verbände wechseln…“, sprach sie mit derselben Ruhe, wie zuvor. Taavi war gebannt vor Überraschung, dass er sie gewähren lies.

Die nächste Woche verging ohne viele Gespräche – was Taavi nur recht war. Er erfuhr, dass die Frau, Firun, ihn im Wald gefunden und in ihre Hütte gebracht hatte. Man hatte ihr das praktizieren von Hexerei vorgeworfen, also war sie aus ihrem Dorf geflohen und hatte hier Zuflucht gesucht. Außerdem wusste sie ganz genau wer Taavi war. Und trotzdem versorgte sie ihn.

„Du bist lebensmüde“, sagte der gefallene Engel eines Tages, während er seine Suppe löffelte. „Jemanden wie mir zu helfen…“

Doch Firun zuckte nur mit den Schultern und lächelte. „Du bist auch nur gebrandmarkt von deiner Vergangenheit. Wenn dir jemand zeigen würde, dass man seinen Zorn hinter sich lassen kann, könntest auch du ein ruhiges Leben führen.“

Taavi blickte zu Boden. Er wusste, dass es ihm nie und nimmer möglich war, Frieden mit der Menschheit zu schließen. Doch gerade als er dies erwidern wollte und Firun in ihre sanften Augen blickte, schien sein kaltes Herz plötzlich zu tauen zu beginnen. Die überraschende Wärme in seiner Brust verunsicherte Taavi. Der junge Mann stellte die Schale auf dem Beistelltisch ab und legte sich wieder ins Bett. Hatte das Gift sich doch weiter ausgebreitet?! Firun setzte sich an die Bettkante und deckte ihn zu. Taavis Herz machte einen Sprung und ein warmes Kribbeln breitete sich in seine Gliedmaßen aus. Als sich die Frau wieder erhob, packte der Mann ihr Handgelenk und hielt sie fest. Überrascht wandte sich Firun zu ihm um. In seinem Blick lag eine Bitte, die er noch niemandem gegenüber verspürt hatte: Bleib. Somit setzte sich die Frau wieder und strich Taavi über das schwarze Haar bis er eingeschlafen war.

In dieser Nacht wurde Taavi von einem lauten Knall geweckt. Die Tür war eingebrochen worden. Laute Männerstimmen brüllten durch die Hütte.

„Nein, bitte nicht! Ich flehe euch an!“, bettelte eine junge Frauenstimme. Firun!

Taavi sprang vom Bett und eilte in den Nebenraum. Ein Mann packte Firun an den Haaren und zerrte sie in die Kälte. Die Frau strampelte und schrie, doch der Mann ließ nicht locker. Taavi eilte hinterher, schnappte sich seinen Waffengurt und hängte ihn sich über die nackte Schulter. Draußen herrschte wildes Schneetreiben. Der Mann drückte Firun auf den Boden. Rundherum hatte sich eine Gruppe weiterer Menschen versammelt.

„Sieh an, sieh an. Wen haben wir denn da!“, höhnte der Größte unter ihnen. Er zog sein Schwert und legte es an Firuns Nacken. Währenddessen blickte er finster in Taavis Augen. Dieser stand stocksteif im tiefen Schnee. Seine Füße waren bereits zu Eis gefroren. Sein Körper schlotterte vor Kälte. Und doch war seine Mine ausdrucklos. Berechnend blickte er in die Augen eines jeden einzelnen. Dann fand er sich in Firuns Augen wieder. Taavi schauderte. Wie sollte er sie aus dieser Situation befreien? Wie als Antwort auf seine Frage schnellte plötzlich das Schwert des Mannes auf Firun herab und durchbohrte ihre Brust. Der Schnee färbte sich röter und röter.

„Nein!“, brüllte Taavi, riss sein eigenes Schwert aus dem Gurt und rannte blind vor Wut auf die Männer zu. Diese hatten keine Chance mit dem Tempo eines gefallenen Engels und erfahrenen Mörders mitzuhalten – auch ohne gebrauch seiner Flügel. Und so fand sich Taavi wenige Augenblicke später als einziger Überlebender dieses Massakers wieder. Unverletzt.

Es lag ihm im Blut. Wie hatte er glauben können, dass er für etwas anderes bestimmt war, als das Töten von Menschen. Taavi blickte in Firuns leblosen Augen und erlaubte sich einen winzigen Moment der Traurigkeit und Reue. Dann verbannte er alle Emotionen und Erinnerungen an die vergangenen Wochen aus seinem eisigen Herz und verschwand wortlos in der Dunkelheit der Nacht.