Von Daniela Seitz

Es schneit nun schon seit vier Tagen unaufhörlich. Als es anfing, fiel die Temperatur innerhalb einer Nacht um 25 Grad. Die Straßen sind zugeschneit. Kein Verkehr mehr möglich. Die Rohre sind zugefroren, weshalb nicht nur in unserer Schule die Heizung ausfiel und damit auch der Unterricht.

Eigentlich ist dieses erzwungene Schulfrei toll. Wenn man rausgehen könnte. Doch es besteht die Gefahr sich zu verlaufen, da der Schnee so hoch liegt, dass man versehentlich auf dem vor den Häusern geparkten Autos herumlaufen könnte. Man verliert in dieser neuen Landschaft und dem anhaltenden Schneegestöber schlicht die Orientierung, wenn man sich zu weit raus wagt.

Auch unsere Heizung ist ausgefallen, doch wir haben noch einen alten Kamin im Haus. Und die halbe Nachbarschaft sitzt nun bei uns, um sich bei uns aufzuwärmen. Sie auch. Zusammen mit ihrer Mutter stand sie vor unserer Tür. Die hochschwangere Mia, der ich die letzten Monate erfolgreich aus dem Weg gegangen war, wann immer sie davon anfing, dass ich der Vater sein solle.

„Patrick, bitte, dass Kind braucht doch auch seinen Vater“, appelliert Mia.

„Und wieso glaubst du, sollte ich das sein? Du warst doch nicht nur mit mir zusammen. Was ist mit den anderen?“

„Welche anderen?“

„Na Tom zum Beispiel. Und was war das mit Simon?“

„Ist das dein Ernst? Tom ist nur ein Freund. Und Simon dein bester Freund! Ohne ihn würde ich gar nicht mehr versuchen mit dir zu reden! Von den beiden kommt keiner als Vater in Frage“, ruft Mia verzweifelt und bricht in Tränen aus.

„Warum denn nicht. Genug Gelegenheiten hattet ihr ja wohl, oder etwa nicht?“

„Nein, denn keiner von beiden ist so wie du. Beide haben ihre sogenannten Gelegenheiten nicht genutzt. Wir haben geredet. Sie haben mir zugehört und mich unterstützt. Du hast mich als einziger ausgenutzt.“

„Fängst du wieder von dem einem Mal an, als ich das Kondom weggelassen habe? Ich sagte dir doch schon. Einmal ist keinmal. Davon kannst du nicht schwanger werden.“

„Doch von genau dem einen Mal bin ich schwanger geworden…“

„Das glaube ich erst nach einem Vaterschaftstest“, unterbreche ich Mia.

„Verdammt, Patrick…“ echauffiert sich Mia und setzt zu weiteren Erwiderungen an.

Doch unerwartet ist da ein komisches Geräusch. Plopp! Mia greift sich reflexartig an den Bauch und schaut nach unten. Ich folge ihrem Blick und sehe eine Wasserpfütze unter ihr.

„Was ist das“, frage ich.

„Meine Fruchtblase ist geplatzt“, ruft Mia und verschwindet aus dem Zimmer.

Ich folge ihr. Mia läuft zu ihrer Mutter. Diese telefoniert mit dem Krankenhaus. Mehrmals. Mias Zustand ist nicht gut. Und der Arzt entscheidet, dass Mia auf gar keinen Fall daheim entbinden kann. Da keine andere Möglichkeit besteht, Mia ins Krankenhaus zu bekommen, warten wir auf den Helikopter, der sie ins Krankenhaus fliegen soll.

Mia liegt nun auf unserem Sofa, nahe beim Kamin. Ich kann mir Mias Wehen nicht mit ansehen und will den Raum verlassen. Doch Mia hält mich fest.

„Bitte Patrick, lass mich nicht allein!“

Verdammte Scheiße! Ich will das nicht. Alles in mir schreit. Doch wir sind nicht alleine. Wenn ich ihr jetzt meine Hand verwehre, wäre ich das eiskalte Arschloch, das nicht einmal bei einer Schneekatastrophe einer Schwangeren hilft. Verflucht und zugenäht!

Ich halte also ihre Hand. Von Zeit zu Zeit zerquetscht sie mir meine Hand, wenn eine Wehe besonders schlimm ist. Meine Abwehr weicht Verwunderung, wieviel Kraft in Mias Händedruck plötzlich steckt.

„Mia das wird schon. Du machst das ganz toll“, versuche ich ihr die Angst zu nehmen, da ich vermute, dass meine Hand umso mehr leiden wird, je ängstlicher Mia ist.

„Kommst du mit ins Krankenhaus?“, fleht Mia und ergreift meine geschundene Hand mit ihrer anderen Hand.

„Wenn der Helikopter irgendwann mal kommt …“, winde ich mich, da ich nicht mit ins Krankenhaus will.

In diesem Moment hört man ein lautes Dröhnen. Der Helikopter landet keine zwanzig Meter von unserem Haus entfernt. Wahrscheinlich auf den acht Garagen, die unter den Schneemassen begraben worden und normalerweise dort zu sehen sind, wo nun der Helikopter steht. Interessanter Landeplatz.

„Na komm, steh auf Mia. Der Helikopter ist da!“

„Ich kann nicht. Nicht durch diesen Schnee. Nicht noch mal. Bitte, Patrick, hilf mir“, bittet Mia, während sie mehrmals vergeblich versucht, alleine aufzustehen.

Mist. Hat der Weg zu uns durch den Schnee, ihr schon alle Kräfte abverlangt, dass sie noch nicht mal von dem Sofa aufstehen kann? Die Geburt alleine kann sie doch nicht so dermaßen hilflos machen, oder? Stellt sie mir vielleicht irgendwie eine Falle, indem sie sich hilfloser gibt, als sie tatsächlich ist? Eigentlich könnten das doch auch die Sanis machen, die gerade an unserer Tür klingeln, oder?

Ich entscheide, dass das nun auch egal ist, ziehe mich an und schnappe mir die mittlerweile in eine Decke gehüllte Mia. Ich trage sie nicht zum ersten Mal. Und obwohl sie schwerer ist als früher, ist es kein Problem für mich. Zumindest, solange wir im Haus sind.

Kaum habe ich mit Mia einen Fuß vor die Tür gesetzt, umfängt mich eine eiskalte Hölle. Ich muss gegen den Wind ankämpfen, um auch nur mein Gleichgewicht bewahren zu können. Sehen kann ich nur die Haustür hinter mir. Alles andere verschwindet in einer weißen Wand aus Schneeflocken. Wie haben die Sanis nur den Weg gefunden? Und wie finden sie ihn jetzt, während sie mich die 20 Meter lotsen?

Mia wird immer schwerer. Es sind die längsten 20 Meter die ich jemals gelaufen bin. Bald spüre ich meine Füße nicht mehr und als ich im Schnee stecken bleibe, hätte ich Mia fast fallen gelassen. Schlussendlich lege ich sie doch auf der Bahre der Sanis ab, obwohl Mia sich von Anfang an dagegen gesträubt hatte.

Zu dritt hieven wir Mia in den Helikopter. Ich steige ein und der Helikopter hebt ab. Sehr viel wärmer wird es zwar nicht, doch der Helikopter schützt uns immerhin vor den beißenden Wind. Eins zu null für die erste Theorie, dass der Weg zu uns Mia schon angestrengt haben musste. Ich bin schon nach diesen 20 Metern fix und fertig. Mia ist zu uns mindestens 400 Meter gelaufen. Und sie ist hochschwanger. Okay, hiermit bin ich offiziell ein Arschloch.

„Wie weit ist es bis zum …“, will ich wissen. Doch Mias Schreie unterbrechen mich.

„Sind das schon die Presswehen?“, fragt mich einer der Sanis.

„Das weiß ich doch nicht. Was sind Presswehen?“, gebe ich überfordert zurück.

„Ja, sind es, dass Kind kommt jetzt!“, ruft der andere Helfer.

„Paaaatrick!“, schreit Mia nach mir.

Scheiße! Wie bin ich in diese Situation geraten. Das ganze wirklich nur wegen einmal Kondom weglassen? Ich will gar nicht hier sein. Und Mia bestimmt auch nicht. Warum bin ich mit eingestiegen. Mias Mutter wäre Mia hier nun viel hilfreicher. Warum ist sie nicht hier? Was für ein Drama. Laufen Geburten immer so ab, oder ist Mia eine Dramaqueen? Tief durchatmen. Nutzt ja nun nichts.

„Du kannst das! Es gibt doch bestimmt irgendwelche Atemübungen, die du gelernt hast, oder“, frage ich und streichle ihren Kopf.

Mia nickt. Sie wird ruhiger und konzentriert sich auf ihre Atmung, sieht mir dabei aber die ganze Zeit in die Augen. Ich traue mich nicht, den Blick abzuwenden, obwohl dieser Blickkontakt mir das Gefühl vermittelt, die Sünde selbst zu sein. Mia hat eine ganz bestimmte Art diesen Blickkontakt zu halten. Früher schon. Bei anderen Gelegenheiten.

„Uääääää“, höre ich noch im Helikopter den ersten Schrei von Mias Tochter. Das kann doch nicht wahr sein. Eine Geburt, bei dem Schneesturm und dann auch noch in der Luft. Ob der Pilot sich verflogen hat, so lange wie der braucht, um beim Krankenhaus anzukommen? Oder hat Mia sich extra beeilt?

„Sie haben eine Tochter! Das reinste Schneewittchen“, lacht der Sani, der das kleine Mädchen in ein Handtuch wickelt.

Dann drückt er es mir in den Arm, weil er sich um Mia und um eine Nachgeburt kümmern muss? Ich frage lieber nicht weiter nach und schaue mir das Baby an.

Schwarze Haare! Genau wie ich! Und Schneewittchen aus dem Märchen. Das erklärt den Kommentar des Helfers. Haben Babys überhaupt bei der Geburt schon so volles Haar? Nun dieses offenbar schon. Unheimlich. Meine Mutter sagte mir mal, dass dies bei meiner Geburt ebenso war.

Ich schlage das Handtuch zurück und lege die Beine der Kleinen frei. Meine Mutter sagte mir auch, dass sie mir ihr Muttermal auf dem rechten Oberschenkel vererbt habe und dieses auch schon bei meiner Geburt zu sehen war. Also, wenn die Kleine das auch hat…

Mich trifft der Schlag! Ich halte die Kleine auf Armlänge von mir weg und starre auf ihren rechten Oberschenkel.

„Hätten Sie lieber einen Sohn gehabt“, fragt ein Helfer, während der Hubschrauber gerade beim Krankenhaus landet.

„Der Vaterschaftstest hat sich erledigt“, sage ich zu Mia, kann aber den Blick nicht von dem Muttermal auf dem rechten Oberschenkel der Kleinen lösen.

Ist sowas wirklich vererbbar? Ich weiß es nicht. Doch als das kleine Wesen mich anlächelt, wird das alles unwichtig angesichts des warmen Gefühls, dass sich in mir breit macht.

„Mein Schneewittchen“, schnurre ich und beginne mit ihr zu kuscheln.

„Ich bevorzuge den Namen Cataleya“, erklärt Mia.

Kurz schaue ich zu Mia, die nun im Rollstuhl ins Krankenhaus geschoben wird. Ich erinnere mich, dass das erste, was ich Mia geschenkt habe, eine südamerikanische Orchidee namens Cattleya war.

„Cataleya also! Ein schöner Name!“

 

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