Von Uta Lemke

Es ist ein kalter Februarmorgen. Von einem „neuen Temperaturtief“ sprechen sie im Radio. Dementsprechend schnell hasten die Menschen heute durch die Straßen, bemüht darum, alle Einkäufe in möglichst kurzer Zeit zu erledigen, um sich dann ins warme Wohnzimmer zurückziehen zu können. Niemand schenkt dem schmalen, blonden Mädchen, das neben der Einkaufspassage auf dem Boden sitzt, einen zweiten Blick. Sie hat eine Decke über die Beine gelegt und trägt einen dünnen Mantel, aber sonst schützt sie nicht viel vor der erbarmungslosen Kälte. Sie hat längst aufgegeben, dagegen anzukämpfen.

Sie stellt sich vor, an einem wärmeren Ort zu sitzen. Vielleicht auf einem gemütlichen Sofa, das vor einem offenen Kaminfeuer steht. Um sie herum so viele Decken, wie sie braucht und eine heiße Tasse Kakao in ihren Händen. Aber sie spürt nur die kalte Hauswand in ihrem Rücken, die eisige Luft in ihrem Gesicht und Eiseskälte in ihren Händen und Füßen. Die kleinen Steinchen auf dem harten Pflastersteinboden bohren sich in ihren hilflosen Körper, als wollten sie sich über sie lustig machen. Ihr Wunschtraum verblasst mehr und mehr, ist wie aus einer anderen Welt.

Sie ist noch nicht lange hier, ohne ein Zuhause, ohne eine Familie. Und dennoch fühlt es sich so weit weg an, ihr altes Leben. Es gibt keinen Weg zurück. Wenn sie eine Behörde finden würde und sich um sie kümmern würde, sie zurück zu ihrer Familie schicken würde, dann säße sie innerhalb kürzester Zeit wieder am selben Ort in der Kälte. Sie ist nicht mehr willkommen dort, wird es nie wieder sein. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie das wütende Gesicht ihrer Mutter vor sich, wie sie die Worte schreit, die kein Kind jemals hören will: „Du bist nicht mehr meine Tochter. Verschwinde! Ich will dich hier nie wieder sehen.“
Sie spürt den Schlag auf ihrer Wange immer noch, die letzte Erinnerung an diese Frau, die sie vermutlich nicht mehr ihre Mutter nennen sollte, nein, nicht mehr Mutter nennen darf.

Aber das ist vorbei, das ist alles nicht mehr wichtig, weil all ihre Probleme zusammengeschrumpft sind auf den bloßen Kampf ums Überleben. Den Kampf um die Aufmerksamkeit der Menschen, die ihr vielleicht den lebensrettenden Euro in ihre Decke legen werden, mit dem sie zumindest für eine kurze Zeit satt werden kann. Den Kampf gegen die Kälte, die in der Nacht durch die löchrigen Wände ihres Unterschlupfs kriecht und nur darauf wartet, ihr endlich den Garaus machen zu können. Und schließlich den Kampf gegen sie selbst, gegen die leise Stimme in ihrem Kopf, die der Frau, die sie einmal Mutter genannt hat, recht gibt und die vom Aufgeben spricht. Die Stimme, die ihr zuflüstert, wie warm ihr im Moment des Todes werden wird, wie alle Schmerzen sie verlassen werden und wie die Kälte in ihr drin zusammen mit ihrem Herzschlag für immer verschwinden wird. Und manchmal, in Momenten wie diesen, in denen der Gedanke an ihre Zukunft sie mit schwarzer Leere erfüllt und sie sich fühlt wie der Dreck, auf dem sie sitzt, wenn um sie herum nur Kälte ist, kalte Menschen, kalte Straßen, kalte Gedanken, dann möchte sie nichts lieber, als dieser leisen Stimme Glauben zu schenken.